Analyse Wie die Sanktionen Russland treffen

Berlin · Dem Westen reißt allmählich der Geduldsfaden angesichts der Hinhaltetaktik von Wladimir Putin in Sachen Ostukraine. Aber auch im eigenen Land bekommt der russische Präsident Gegenwind.

Zum Marine-Feiertag ging Russlands Präsident Wladimir Putin in Seweromorsk an der Grenze zu Norwegen gestern in die Vollen. 20 neue Kriegsschiffe werde allein die russische Schwarzmeerflotte in der annektierten Krim erhalten. Auch die anderen Flotten Russlands würden modernisiert. Eindrucksvoller lässt sich die von Putin erstrebte Rückkehr zu imperialem Anspruch Moskaus kaum unterstreichen. Zur selben Zeit machte Außenminister Frank-Walter Steinmeier in Berlin eine andere Rechnung auf: Schon vor dem Inkrafttreten der Wirtschaftssanktionen gegen Russland habe Putin rund hundert Milliarden Dollar verloren: Weil die russische Wirtschaft vor den Folgen von Putins aggressivem Kurs reißaus nimmt. Fallen ihm nun die um ihre Geschäfte bangenden eigenen Oligarchen in den Arm?

Die Hoffnung haben zumindest die Bundestagsabgeordneten, die sich vergangene Wochen mitten in den Parlamentsferien zu einer Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses trafen. Streng vertraulich, denn der Chef des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, war mit einer neuen Einschätzung zu Gast. In Moskau habe ein Ringen um Einfluss auf Putin eingesetzt. Oligarchen könnten wirtschaftliche über politische Interessen stellen und Putin vom Konfliktkurs abzubringen versuchen.

"Russland ist riesig, aber es ist ein Scheinriese", analysiert die Sicherheitsexpertin Sylke Tempel von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Putin habe zwar nach den chaotischen Jahren unter Präsident Boris Jelzin für Stabilität und Verbesserungen für die meisten Bürger gesorgt - zugleich aber ein "System der Abhängigkeit" geschaffen. Tempel attestiert Putins Wirtschaftspolitik ein verhängnisvolles Ergebnis: "Die Wirtschaft wird von ihm nicht mit starker Hand geführt - er schnürt ihr die Luft ab." Deshalb verließen viele der kreativsten Köpfe das Land, gebe es einen immensen Kapitalabfluss ins Ausland, bewege sich Russland stetig in Richtung Rezession. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) der börsennotierten Unternehmen in Russland liegt zudem nach Berechnungen des "Economist" nur bei 5,2. Damit haben sie einen Wert von 735 Milliarden Dollar. Bei einer Bewertung nach dem durchschnittlichen KGV (12,5) wäre der Wert um eine Billion Dollar (750 Milliarden Euro) höher. All das ist die innerrussische Folge von Putins außenpolitische Aggression in der Ukraine.

In dieser Phase können einschneidende Wirtschaftssanktionen doppelt treffen. Die ersten Beschlüsse der EU wirkten noch wie unmerkliche Nadelstiche. Ja, manche Betroffene lachten darüber und meinten, es sei für sie eine Auszeichnung und Ehre, auf der Sanktionsliste der EU zu stehen. Doch dieser Spott ist leiser geworden.

Zwar wiederholte sich nach den erschütternden Bildern vom Abschuss des Passagierflugzeuges über der Ostukraine zunächst das peinliche Schauspiel einer um egoistische Pfründe streitende EU: Die Briten wollten vollmundig Sanktionen, aber keine, die ihnen russisches Geld von ihrem Finanzplatz abziehen könnten, auch die Franzosen plädierten für Sanktionen, aber nicht für solche, die ihre Flugzeugträgerlieferungen an Moskau beeinträchtigen könnten. Doch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat den Schalter inzwischen herumgelegt.

Sie ist es erkennbar leid, von Putin immer wieder hingehalten, vertröstet und letztlich auch hintergangen zu werden. Verspricht er ihr im persönlichen Telefonat, zur Waffenruhe in der Ostukraine aufzurufen, braucht er mehrere Wochen, um dies auch zu tun - und die Waffenruhe nutzt er dann überdies dazu, die anfangs kaum mit Waffen ausgestatteten Separatisten mit modernen Systemen, Söldnern und Spezialkräften hochzurüsten. Seitdem haben sie den ukrainischen Streitkräften ihren Vorteil genommen: die Beherrschung des Luftraumes über dem Separatistengebiet ist nach dem Abschuss von mindestens zwölf Militärmaschinen und dem Tod zahlreicher Soldaten zerstört.

Wenn die Separatisten die Ostukraine nun "Neu-Russland" nennen, erinnert das fatal an die Vorgänge auf der Krim. Auch dort bestritt Putin, mit den dort operierenden militärischen Einheiten irgendetwas zu tun zu haben - bis er nach erfolgter Annexion die auf der Krim eingesetzten russischen Militärs mit Orden auszeichnete. "Wir werden die russische Annexion der Krim nicht anerkennen", stellt Unionsfraktionsvize Andreas Schockenhoff fest. Er formuliert als Reaktion auf Putins Vorgehen eine Neu-Ausrichtung der deutschen und europäischen Russland-Politik. So müsse sich die EU "unabhängiger von Russland machen - insbesondere in ihren Energiebeziehungen". Wenn die Europäer ihr Gas künftig vermehrt von Dritten beziehen, wird sich nach Überzeugung Schockenhoffs schon bald zeigen: "Russland braucht die Europäische Union mehr, als dies umgekehrt der Fall ist."

Das ist das Szenario, das Oligarchen in Russland das Fürchten lehrt: Sinkende Einnahmen aus dem Gasgeschäft in Kombination mit Wirtschaftssanktionen, die nicht nur sie persönlich und ihre geliebten Luxusanwesen und in die EU geschafften Finanzen betreffen, sondern die Russland in ein wirtschaftliches Fiasko stürzen, wenn die zur Modernisierung des Landes dringend benötigten modernen Maschinen aus dem Westen plötzlich ausbleiben.

Die in dieser Woche anstehende neue Runde von Sanktionen ist vor diesem Hintergrund noch sehr übersichtlich. Eine Reihe weiterer Verantwortlicher in Russland und in der Ostukraine soll auf die Liste derer gesetzt werden, die nicht mehr einreisen und deren Vermögen im Westen eingefroren werden. Doch die Begleitmusik soll deutlich machen, dass die EU davor steht, ihre Zurückhaltung aufzugeben. Wirtschaftsvertreter berichten, dass sie intern von der Regierung bereits auf einen schärferen Kurs vorbereitet worden seien. Bemerkenswerterweise rückt Ostausschuss-Chef Eckhard Cordes davon ab, vor neuen Sanktionen zu warnen: "Wenn Putin diesen Weg weitergeht, ist es nicht der Weg der deutschen Wirtschaft."

Laut BND ist es auch nicht der Weg der russischen Wirtschaftselite.

(may-)
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