Kolumne Politisch Inkorrekt Wie viel Freiheit verträgt ein Bildungssystem?

Die Frage der allgemeinen Schulpflicht ist ein Tabu in Deutschland. In den meisten europäischen Ländern geht es liberaler zu.

Das Oberlandesgericht Hessen muss sich mit einem Fall von Sorgerechtsentzug beschäftigen. In Darmstadt hatte das Jugendamt im vergangenen Jahr einem sehr religiösen Ehepaar die vier Kinder entzogen und sie in einem Heim untergebracht. Die Eltern hatten die Kinder nicht zur Schule geschickt, sondern selbst unterrichtet. Kein Einzelfall: In Paderborn mussten baptistisch gesinnte Eltern aus gleichem Grund sogar hinter Gitter. Und wenn ich gestern lese, dass in Baden-Württemberg 65 000 Menschen eine Petition gegen eine neue, besonders "fortschrittliche" Sexualkunde unterschrieben haben, so dürfte die Bewegung der Verweigerer eher wachsen als abnehmen.

Wenn es eine allgemeine verbindliche Schulpflicht gibt, darf der Staat keine Ausnahme machen. Nicht für Christen, nicht für Muslime — klarer Fall. Die Frage aber lautet: Ist diese allgemeine Schulpflicht eine zwingende Notwendigkeit? Im Grundgesetz wird das Recht zur Erziehung der eigenen Kinder allein den Eltern zugewiesen (Artikel 6). Der Staat hat die Pflicht, das Schulwesen zu kontrollieren. Schön und gut, aber warum sollen eigentlich in einer freien Gesellschaft Eltern, die dazu in der Lage sind, ihre Kinder nicht selbst unterrichten dürfen?

Ich höre schon den Aufschrei, denn so was zu denken, gehört sich nicht im einstigen Land der Dichter und Denker. Doch in den meisten europäischen Ländern ist es möglich. Länder, die nicht unterentwickelt sind: Österreich, Frankreich, Großbritannien und Dänemark. Dort gibt es eine Bildungspflicht, die aber nicht zwingend mit einer Schulpflicht einhergehen muss. Die Kinder werden zu Hause von Eltern oder auch Privatlehrern unterrichtet — und müssen sich für Abschlüsse und Zeugnisse dem staatlichen Prozedere stellen. Das funktioniert nicht, meinen Sie? Die "Neue Osnabrücker Zeitung" berichtete über eine Familie aus Norddeutschland, die nach Frankreich umgezogen war, um ihrem Sohn den Schulbesuch zu ersparen. Zur Prüfung kamen sie zurück nach Deutschland. Obwohl jahrelang nicht im staatlichen Schulunterricht, schaffte der 16-jährige Moritz den Realschulabschluss mit einem Notendurchschnitt von 1,4.

Aber nehmen wir einmal an, wir Deutschen wären mit unserem Bildungssystem mal wieder allen anderen überlegen: Wieso gibt es bei uns dann trotz Schulpflicht sieben Millionen Analphabeten? Wieso müssen Betriebe ihre Lehrlinge oft erst einmal in betriebliche Bildungsmaßnahmen schicken, um sie überhaupt ausbildungsfähig zu machen?

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de; "Politisch inkorrekt — Texte gegen den Strom", Klaus Kelles Kolumnen als Buch (12,95 Euro). Bestellung: 0800 7727773 (Mo-Fr, 8—16 Uhr) oder www.rp-shop.de.

(RP)
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