Jean-Claude Juncker "Wir brauchen Mindestlöhne in ganz Europa"

Der frühere Chef der Eurogruppe will sich Ende der Woche offiziell als Kandidat der Konservativen für den Posten des EU-Kommissionschefs aufstellen lassen. Im Interview spricht er über seine Ambitionen, die Euro-Krise und Populismus.

Brüssel Jean-Claude Juncker ist einer der erfahrensten EU-Politiker auf dem Kontinent. Der 59-Jährige gehörte zu den Architekten der Währungsunion, war als Luxemburger Ministerpräsident 19 Jahre Mitglied im mächtigen Gipfel-Club der EU-Chefs und spielte als Eurogruppen-Vorsitzender zuletzt eine zentrale Rolle bei der Rettung der Gemeinschaftswährung. Jetzt will der Christsoziale Kommissionspräsident werden – also "Regierungschef" der EU. Bei einem Kongress der europäischen Konservativen (EVP) Ende der Woche in Dublin soll er offiziell nominiert werden.

Warum wollen Sie Kommissionspräsident werden?

Juncker Weil ich Europa besser machen möchte. Die EU muss sich jetzt verändern, wenn sie künftig in der Welt noch Gewicht behalten will. Ich möchte ein Europa, das sich um die großen kontinentalen Fragen kümmert und sich aus dem Tages-Allerlei heraushält. Die EU muss lernen, das Wichtige richtig zu tun und das Nichtige zu lassen.

Bedeutet das auch, dass Brüssel Kompetenzen an die Nationalstaaten zurückgeben soll?

Juncker Die EU braucht weniger und bessere Regulierung. Vorschriften für Olivenölkännchen vertiefen den Graben zwischen Europa und den Bürgern nur unnötig. Ich bin dafür, dass überflüssige Brüsseler Kompetenzen an die Hauptstädte zurückgegeben werden. Gleichzeitig muss die EU aber dort zusätzliche Zuständigkeiten bekommen, wo es um Europas Rolle in der Welt geht. Es ist etwa ein Unding, dass die Europäer in internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen immer noch zersplittert auftreten und keinen einheitlichen Sitz haben.

In der Ukraine-Krise macht die EU nicht die allerbeste Figur. Was muss dort geschehen, um das Schlimmste zu verhindern?

Juncker Die EU muss mit ihren internationalen Partnern – vornehmlich Amerika – alle Hilfe leisten, damit die Ukraine nicht in totalen Immobilismus verfällt. Dazu gehört jetzt vor allem finanzielle und wirtschaftliche Hilfe. Zudem müssen die Europäer in gemeinsamer Anstrengung mit Russland die Dinge in den Griff kriegen. Es gibt in der Region keine Lösung ohne Moskau. Gleichzeitig muss Russland begreifen, dass es nicht über die Ukraine verfügen kann. Alle Beteiligten müssen sich ihrer Verantwortung für die Stabilität der Region bewusst werden – und sich entsprechend verhalten.

Ist die Schuldenkrise vorbei?

Juncker Vor 18 Monaten haben Spekulanten noch darauf gewettet, dass Griechenland aus der Euro-Zone austritt und die Währungsunion zerfällt. Nun ist allen klar: Der Euro ist stabil, die Eurozone hält zusammen. Doch der Reformkurs muss weitergehen, um die Krise endgültig zu überwinden.

Ihr Mitbewerber von den Sozialisten, Martin Schulz, kritisiert den bisherigen Krisenkurs als zu einseitig aufs Sparen fixiert. Stimmt das?

Juncker Wenn manche suggerieren, dass man Schulden mit Schulden bekämpfen kann, so ist das ein fundamentaler Irrtum und eine Versündigung an der Generation unserer Kinder, die dafür zahlen.

Aber die Jugendarbeitslosigkeit ist vielerorts auf Rekordniveau, die Menschen in den Krisenstaaten leiden unter den Reform-Folgen. Folgt der Schuldenkrise die soziale Krise?

Juncker Sie ist schon da. Wenn wir diese Generation zu einer verlorenen werden lassen, werden wir einen sehr hohen Preis für diesen Sündenfall zahlen. Manchen Maßnahmen in der Vergangenheit fehlte die soziale Balance. Wir müssen das Gleichgewicht zwischen wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Solidarität wieder herstellen – ohne eine der beiden Seiten zu stark zu betonen. Europa braucht ökonomische und soziale Harmonie.

Wie wollen Sie das Soziale stärken?

Juncker Es geht um eine Rehabilitierung der sozialen Marktwirtschaft. Nicht sie hat in der Krise versagt, sondern jene, die gegen ihre Grund-Prinzipien verstoßen haben. Die Wirtschaft muss wieder der Allgemeinheit dienen und nicht der Mensch der Wirtschaft.

Wie wollen Sie das erreichen?

Juncker Ich bin überzeugt, dass Europa Mindestlöhne braucht. Jedes EU-Land sollte entsprechende Regeln einführen. Ob sie branchenspezifisch oder allgemeinverbindlich sind, bleibt den Hauptstädten überlassen. Außerdem muss es in jedem EU-Land ein Mindesteinkommen geben, wenn wir das Vertrauen der Menschen in das europäische Projekt zurückgewinnen wollen.

Sie gelten als Vertreter des "alten Europa" – des Friedensprojekts. Wie erklären Sie jungen Leuten, dass die EU nicht ausgedient hat?

Juncker Mit den Herausforderungen der Zukunft. 80 Prozent der globalen Wertschöpfung finden jetzt schon außerhalb der EU statt. Und Europa wird weiter an wirtschaftlichem Gewicht verlieren. In 30 Jahren sitzt kein europäisches Land mehr am G 7-Tisch der mächtigsten Industrieländer. Ende des Jahrhunderts wird es auf zehn Milliarden Menschen nur vier Prozent Europäer geben. Wenn wir weiter in der Welt Gewicht haben sowie unsere Werte und unser Sozialmodell verteidigen wollen, dann müssen wir enger zusammenstehen. Jetzt ist nicht der Moment gekommen, wieder in Kleinstaaterei zu verfallen, wie manche Populisten es predigen.

Apropos Populisten und Rechtsextremisten: Umfragen sagen ihnen deutliche Gewinne bei der Europawahl voraus. Wie groß ist die Gefahr?

Juncker Die Gefahr darf nicht unterschätzt werden. Wenn wir zulassen, dass aus dem Vormarsch der Populisten, Extremisten und EU-Gegner ein Durchmarsch wird, dann haben wir Europa aufgegeben. Es geht also um die Wurst. Ich setze auf die Auseinandersetzung, die Kraft der Argumente und darauf, dass die Europäer vom Zweiten Weltkrieg gelernt haben, dass Schlimmes entstehen kann, wenn man nicht auf den Schoß aufpasst, der noch fruchtbar ist.

Ihr sozialdemokratischer Rivale wird Sie damit angreifen, dass Sie viele Jahre der Regierungschef eines Steuerparadieses waren. Was sagen Sie ihm?

Juncker Ich werde ihm erklären, dass Luxemburg kein Steuerparadies ist, was er auch weiß. Im Übrigen werde ich mich nicht dafür entschuldigen, dass ich 19 Jahre Ministerpräsident meines Landes war und entsprechende Regierungserfahrung habe. Ich werfe ihm ja auch nicht vor, dass er nicht 19 Jahre Bundeskanzler war. Ich setzte auf eine faire Auseinandersetzung: freundlich im Ton und hart in der Sache. Es ist niemandem damit gedient, wenn die Spitzenkandidaten aufeinander einprügeln. Ich schätze Martin Schulz sehr. Er ist nicht mein Feind, sondern mein Mitbewerber für eine gute Sache.

Wie wichtig ist die Unterstützung von Angela Merkel für Sie?

Juncker Hätte ich ihre Unterstützung nicht, wäre das nicht förderlich für meine europäischen Reformpläne.

Sie gelten als geschickter Mittler zwischen kleinen und großen Staaten in Europa. Ist Deutschland zu dominant?

Juncker Ich habe mich in langjähriger Regierungspraxis nie von Deutschland plattgewalzt gefühlt. Die Deutschen waren uns noch nie so gute Nachbarn wie heute. Klar ist: Kleine und große Staaten müssen sich in Europa gemeinsam in eine Richtung bewegen. Und dafür wäre hilfreich, wenn die Regierungschefs nicht nach jedem EU-Gipfel heimfahren und so tun, als hätten sie im Boxring Brüssel lauter Gegner besiegt.

ANJA INGENRIETH FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(RP)
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