Péter Szijjártó "Wir glauben nicht, dass Migration gut ist"

Der ungarische Außenminister fordert einen pragmatischen Umgang mit Russland und plädiert weiter für eine restriktive Flüchtlingspolitik.

Herr Szijjártó, vor 60 Jahren kam es in Ungarn zum Aufstand gegen die damaligen sowjetischen Besatzer. Heute bemüht sich ihr Land um Verständnis für Moskau - warum?

Szijjártó Um das zu begreifen, genügt doch ein Blick auf die Landkarte. Ungarn liegt in Zentraleuropa, und damit haben wir gar keine andere Wahl - wir müssen mit Russland gut auskommen. Das ist eine pragmatische Haltung. 85 Prozent unseres Gases kommen aus Russland, wir sind in vielerlei Hinsicht abhängig von den Russen. Wir müssen mit ihnen reden, ob uns das nun immer gefällt oder nicht. Die Geschichte hat uns außerdem gelehrt, dass es bei Konflikten zwischen dem westlichen und dem östlichen Teil Europas immer zentraleuropäische Länder wie Ungarn waren, die besonders darunter gelitten haben.

Führende EU-Politiker sprechen von Gräueltaten der Syrer und Russen bei der Bombardierung von Aleppo.

Szijjártó Ich möchte diese Äußerungen nicht kommentieren. Ich kann Ihnen nur sagen, dass es in unserem europäischen Interesse ist, dass in Syrien wieder Frieden herrscht. Das werden wir aber nach Lage der Dinge ohne Russland nicht erreichen können.

Wie bewerten Sie die deutsch-französischen Anstrengungen, in der Ukraine-Krise eine Lösung zu finden?

Szijjártó Wir sind sehr dankbar dafür, insbesondere für die Bemühungen von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die Ukraine ist unser Nachbarland, rund 150.000 Ungarn leben dort. Dieser Konflikt betrifft uns also ganz unmittelbar. Deswegen stehen wir hundertprozentig hinter Merkels Strategie, die Vereinbarungen von Minsk endlich vollständig umzusetzen. Nur so ist eine Befriedung der Ost-Ukraine möglich.

Sehen Sie eine Spaltung der EU in der Ukraine-Frage?

Szijjártó Nein, die sehe ich nicht. Es gibt allerdings unterschiedliche Einschätzungen, was die Rolle Russlands angeht. Wir in Ungarn fühlen uns von den Russen nicht unmittelbar bedroht. Aber wir respektieren, dass unsere Freunde in Polen oder in den baltischen Staaten das anders sehen und eine russische Aggression befürchten.

Eine klare Spaltung der EU gibt es in der Flüchtlingsfrage. Ungarn lehnt eine Verteilung von Flüchtlingen nach Quoten strikt ab. Was schlagen Sie stattdessen vor?

Szijjártó Drei Maßnahmen, die alle zusammengehören: zunächst eine strikte Kontrolle unserer Grenzen. Es ist nicht akzeptabel, dass wie im vergangenen Jahr Hunderttausende illegal unsere Grenzen überschreiten, obwohl sie aus einem sicheren Land kamen wie Kroatien oder Serbien und in ein Land ihrer Wahl einreisen wollten wie Deutschland.

Sie schließen die Grenzen, weil Flüchtlinge Ihre territoriale Integrität verletzen, wie Sie sagen. Sie schieben dann die Verantwortung einfach auf Ihr Nachbarland. Ist das fair?

Szijjártó Wir müssen deshalb zweitens die Länder unterstützen, die an die Krisengebiete grenzen - Türkei, Libanon, die kurdischen Gebiete und Jordanien. Darin liegt unsere Verantwortung. Wir müssen sie nicht in unser Land lassen, wir müssen aber den Ländern helfen, die die größten Flüchtlingslasten tragen.

Warum können Sie und wir ihnen nicht ein paar Flüchtlinge abnehmen - aus humanitären Gründen?

Szijjártó Darum geht es nicht. Wenn die Flüchtlinge nach Europa kommen, werden sie nie wieder in ihr Land zurückkehren. Sie fehlen beim Wiederaufbau. Das ist anders, wenn sie in der Nähe ihrer verlassenen Heimat leben. Dann werden sie auch wieder zurückkehren.

Sollen wir uns also einfach von jeder humanitären Pflicht loskaufen?

Szijjártó Es ist genau anders herum. Und das ist mein dritter Punkt. Die Europäische Union finanziert Milliarden an Entwicklungshilfe in Ländern, deren Menschen sich auf die Flucht machen. Die meisten kommen nicht aus Regionen, in denen Krieg und Verfolgung herrschen. Wir müssen deshalb die Vergabe der Mittel an Bedingungen knüpfen. Die Regierungen solcher Länder werden nur dann Hilfen bekommen, wenn sie ihre Menschen an der Flucht hindern.

Viele Experten sagen, wir brauchen eine europäische Migrationspolitik, um unsere Arbeitsmarkt- und Demografieprobleme zu lösen.

Szijjártó Das war lange Zeit, vor allem vor der großen Flüchtlingskrise, eine eher intellektuelle Debatte.

Jetzt ergibt sich die Chance, einen Teil unserer Probleme mit klaren Einwanderungsregeln zu lösen.

Szijjártó Wir glauben nicht, dass wir diese Probleme mit mehr Einwanderung lösen. Das Problem niedriger Geburtenraten löst Ungarn mit einer besseren Politik für die Familien. Die Arbeitsmärkte in Süd-, Mittel- und Osteuropa sind eher angespannt. Wir haben Arbeitslosenraten von teilweise über 30 Prozent. Das müssen wir vorrangig angehen. Wir haben zum Beispiel die Minderheit der Roma, in der viel mehr arbeitslos sind als im Landesschnitt. Diese Probleme müssen wir lösen, nicht neue schaffen. Wenn europäische Länder sagen, Migration ist gut, so sagen wir: Sorry, das glauben wir nicht.

MATTHIAS BEERMANN UND MARTIN KESSLER FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

(RP)
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