Sebastian Wood "Wir wollen die Flüchtlinge nicht nach Europa holen"

Der britische Botschafter warnt vor einem falschen Signal an Migranten und fordert mehr Hilfe vor Ort. Eine Reform der EU sei unverzichtbar.

Düsseldorf Verabschiedet sich Großbritannien schon bald aus der EU? Und was finden die Briten eigentlich so schlecht an der europäischen Integration? Sir Sebastian Wood, Botschafter Ihrer Majestät in Berlin, gab freimütige Antworten.

Herr Botschafter, ihre Landsleute werden vielleicht noch in diesem Jahr über den Verbleib in der EU abstimmen. Wagen Sie eine Prognose über den Ausgang des Referendums?

Wood Befürworter und Gegner eines EU-Austritts sind derzeit in den Umfragen etwa gleich stark. Aber ein gutes Drittel ist noch unentschlossen. Diese Gruppe wird den Ausgang der Abstimmung entscheiden. Und ihr Votum wird sehr stark davon abhängen, ob Premierminister David Cameron in Brüssel seine Reformforderungen durchsetzen kann, möglicherweise schon auf dem EU-Gipfel in der kommenden Woche. Cameron will die Kampagne gegen den britischen EU-Austritt, den "Brexit", anführen, aber dafür braucht er handfeste Ergebnisse.

Höchst umstritten ist etwa Camerons Forderung nach einer Einschränkung bei Sozialleistungen für EU-Arbeitnehmer. Legt das nicht die Axt an das Prinzip der EU-Freizügigkeit ?

Wood Nein, im Gegenteil. Diese Maßnahme soll lediglich massenhaften Missbrauch verhindern, der die Freizügigkeit ja auch in anderen Ländern mit komfortablen Sozialleistungen wie Deutschland zunehmend in Misskredit bringt. Die Einwanderung in unser Sozialsystem prägt die politische Debatte in Großbritannien seit vielen Jahren, das ist ein sehr sensibles Thema. Wir haben nun einmal ein sehr großzügiges, allein aus Steuern finanziertes System, das die Briten unbedingt bewahren wollen, das aber eine Verlockung für Menschen aus einigen anderen EU-Staaten darstellt. Dazu kommt, dass wir ohnehin schon ein sehr starkes demografisches Wachstum verzeichnen. Allein in den vergangenen fünf Jahren hat die Bevölkerung um 2,3 Millionen Menschen zugenommen. Die Hälfte davon geht auf eine hohe Geburtenrate zurück, die andere Hälfte ist Netto-Einwanderung.

Wie wirkt sich die Entscheidung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Grenze für Flüchtlinge zu öffnen, auf die britische Austrittsdebatte aus?

Wood Ganz klar, die Bilder der Flüchtlingskrise, die uns vom Kontinent erreichen, sind nicht hilfreich. Aber ich glaube nicht, dass sie am Ende dafür entscheidend sind, wie die Briten abstimmen. Wir leben nun einmal auf einer Insel. Diese Flüchtlingskrise betrifft uns damit weniger unmittelbar als andere EU-Länder, die die größte Mühe haben, ihre Grenzen zu sichern.

Warum hilft Großbritannien Deutschland nicht, indem es einen Teil der Flüchtlinge aufnimmt?

Wood Wir haben zugesagt, dass wir bis 2020 insgesamt 20.000 Flüchtlinge aufnehmen ...

So viele kommen in einer Woche nach Deutschland!

Wood ... ich weiß, aber die Aufnahme einer höheren Zahl würde auch das falsche Signal setzen. Wir wissen, dass Großbritannien ein attraktives Ziel für Migranten ist. Wenn wir in großem Umfang an einem europäischen Quotensystem für die Verteilung von Flüchtlingen teilnähmen, würden wir den Andrang und die Lage in unseren europäischen Nachbarländern vermutlich noch verschlimmern. Statt die Flüchtlinge nach Europa zu lassen, sind wir dafür, in den syrischen Nachbarländern wie Libanon, Jordanien oder der Türkei so viel Hilfe wie möglich zu leisten, dort auch Infrastruktur wie Schulen zu errichten und Jobs zu schaffen. Großbritannien leistet in den Flüchtlingslagern übrigens den größten finanziellen Beitrag, nach den USA, aber noch vor Deutschland. Und wir engagieren uns stark für eine diplomatische Lösung des Syrien-Konflikts.

Cameron fordert auch mehr Wettbewerbsfähigkeit und weniger Bürokratie, was doch eigentlich alle in der EU unterstützen. Musste man da wirklich mit einem Austritt drohen, um das durchzusetzen?

Wood Für uns handelt es sich nicht um eine Drohung, sondern schlicht um Demokratie. Seit 40 Jahren, seit dem letzten EU-Referendum, haben sich die Briten nicht mehr zur Entwicklung der EU äußern können. Es ist einfach an der Zeit, ihre Meinung einzuholen. Denn die EU hat sich in dieser Zeit enorm entwickelt und ihren Charakter stark verändert. Wir sind überzeugt davon, dass eine solche Abstimmung besser ist als eine zermürbende Dauerdebatte, die ja ebenfalls in einen Austritt Großbritanniens münden könnte.

Aber will London nicht dem Rest der EU seinen Willen aufzwingen - so soll doch das Ziel einer immer tieferen Integration gekippt werden?

Wood Überhaupt nicht, wir wollen die Entwicklung der EU nicht blockieren. Im Gegenteil, wenn eine stärkere Verzahnung die Euro-Zone stabilisiert, sind wir sehr dafür, denn das nutzt ja auch uns. Nur wollen wir klargestellt wissen, dass auf diesem Weg die berechtigten Interessen jener EU-Mitglieder, die diese weiteren Integrationsschritte nicht mitmachen, respektiert werden.

Aber läuft das nicht auf ein stark integriertes Kerneuropa hinaus und darum herum einige Länder, die sich nur die Rosinen herauspicken?

Wood Nein, es geht uns um Vielfalt und um Flexibilität in Europa. Die EU darf nicht reduziert werden auf eine Währungszone. Und mit dem Versuch, gegen den Willen der Menschen eine weitere Integration zu erzwingen, riskieren wir doch erst recht das Zerbrechen der EU!

Wo konkret haben Sie denn ein Problem mit der EU?

Wood Wir Briten sind sehr stolz auf unsere demokratische Tradition und unsere Institutionen wie die Justiz und das Parlament, die sich in 900 Jahren entwickelt haben und auf die wir uns immer verlassen konnten. Es gibt einfach kein Verständnis dafür, warum es vorteilhafter sein könnte, aus Brüssel oder Straßburg regiert zu werden. Daher begrüßen wir auch, dass EU-Ratspräsident Donald Tusk vorgeschlagen hat, dass künftig eine Mehrheit der nationalen Parlamente Gesetzesvorhaben der EU-Kommission stoppen können soll. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, der den demokratischen Charakter der Entscheidungen in der EU stärken wird.

MATTHIAS BEERMANN FASSTE DAS GESPRÄCH ZUSAMMEN

(RP)
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