Wut auf die Behörden

Jeder vierte Jobcenter-Mitarbeiter ist schon einmal Opfer eines An- oder Übergriffes geworden. Häufig randalieren die Besucher, Angestellte werden bedroht oder – wie jetzt in Neuss – sogar tödlich verletzt.

Düsseldorf Die 39-jährige Nigerianerin wollte sich am 19. Mai 2011 in der Frankfurter Agentur für Arbeit lediglich einen Antrag bewilligen lassen. Am Ende des Tages war sie tot, erschossen von einer Polizistin in Notwehr, die die randalierende Frau zu bändigen versuchte.

Nachdem der Antragsstellerin Bezüge verwehrt worden waren, hatte sie begonnen, ihre Sachbearbeiterin zu beschimpfen. Als hinzugerufene Polizisten die Personalien der Frau kontrollieren wollten, zog die 39-Jährige ein Messer aus ihrer Handtasche und verletzte einen Polizisten schwer. Seine Kollegin griff daraufhin zur Waffe, schoss und traf die Frau am Oberkörper.

Dieser tragische Streit ist kein Einzelfall. Jobcenter wurden in der Vergangenheit schon häufig Schauplätze von Gewalt. Und die Angriffe auf Beschäftigte nehmen zu, heißt es in einer Erklärung der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG). Häufig seien die Anlässe ablehnende Bescheide in Hartz-IV-Verfahren. Die Arbeitsagentur selbst erfasst die Vorfälle nicht. Da sie aber als Arbeitsunfälle gelten, sind sie bei der Unfallversicherung des Bundes hinterlegt.

Nach einer im vergangenen Jahr veröffentlichten Umfrage der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung wurde jeder vierte Jobcenter-Mitarbeiter bereits Opfer eines An- oder Übergriffs. Knapp 2200 Beschäftigte aus zwölf Jobcentern wurden für die Studie befragt. Mehr als zwei Drittel der Mitarbeiter fühlen sich demnach unsicher oder bedroht. Auseinandersetzungen mit berauschten oder gewaltbereiten Leistungsempfängern seien für die Angestellten alltäglich.

Die Liste der Vorfälle ist lang: In Köln etwa packte im Juli 2011 ein Hartz-IV-Betroffener seine Sachbearbeiterin an den Haaren, schlug ihren Kopf auf den Schreibtisch und warf einen Monitor nach ihr. In Aachen wurde der Geschäftsstellenleiter vor drei Jahren mit einer Pistolenattrappe als Geisel genommen, in Homberg (im Schwalm-Eder-Kreis) erlitt im Juli 2010 ein Angestellter nach einem Gerangel Prellungen und einen Rippenbruch.

Im März 2010 erlitten zwei Jobcenter-Mitarbeiter in Essen Schnitte an Kopf und Händen, nachdem ein Arbeitsloser während eines Beratungsgesprächs mit einem Teppichmesser auf sie losging. In Berlin randalierte im April 2011 ein Mann mit einer Axt im Jobcenter im Stadtteil Tempelhof. Nachdem ihm am Vormittag eine abschlägige Entscheidung mitgeteilt worden war, zerschlug er am Nachmittag mit der Axt mehrere Glastüren und bedrohte Mitarbeiter. Ebenfalls in Berlin rächte sich ein aufgebrachter Kunde im Stadtteil Marzahn mit einem selbst gebastelten Brandsatz für eine, seiner Meinung nach ungerechtfertigte Entscheidung. Auch in Wuppertal setzte im September 2011 ein frustrierter Kunde das Jobcenter in Brand.

Da gehören mit Bauschaum verschlossene Türen (im August 2012 im Jobcenter im Kreis Oberspreewald-Lausitz) oder Stinkbombenanschläge (im Juni und im Juli 2012 in Bottrop) noch zu den eher leichteren Vergehen. Ein Unbekannter verschüttete Buttersäure im Flur des Bottroper Amtes, einige Mitarbeiter mussten wegen Übelkeit ins Krankenhaus.

Einen tödlichen Angriff gab es bereits vor elf Jahren im niedersächsischen Verden. Dort wurde der Direktor des örtlichen Arbeitsamtes Opfer einer Kunden-Attacke. Der 46-jährige Täter stach 25 Mal mit einem Dreikantschaber auf sein Opfer ein. Einige Stiche gingen durch die Schädeldecke. Er habe in dem Direktor nach der drohenden Sperre seiner Arbeitslosenhilfe "die einzige Hoffnung" gesehen, erklärte der 46-Jährige später bei der Verhandlung.

Vor allem die Leistungsabteilungen der Ämter seien das Ziel derartiger Angriffe, erklärt die DPolG. Die Gesetzeslage sei für die Leistungsempfänger viel zu kompliziert und häufig weder einsehbar, geschweige denn nachvollziehbar. Zudem ist das Frustrationspotenzial in Jobcentern hoch. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres bekamen mehr als 146 000 Hartz-IV-Empfänger wegen Regelverstößen die Leistungen gekürzt. Die Betroffenen müssten das Handeln der öffentlichen Verwaltung nachvollziehen können, so die DPolG: "Wenn es um die Existenz geht, dann sind Kurzschlusshandlungen aus Wut und Verzweiflung alles andere als unvorhersehbar."

(RP)
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