Donezk Zwischen den Fronten

Donezk · Seit Beginn der Ukraine-Krise haben Tausende die einstige Millionenmetropole Donezk verlassen. Denn der Krieg ist dort allgegenwärtig - trotz des Bemühens um Normalität.

Der Morgen ist kalt, aber strahlend blau, als die 80-jährige Julia aus ihrer kleinen Unterkunft im Flughafendistrikt hinaustritt. Der Flughafen Donezk, von dem aus noch vor wenigen Jahren Tausende Fußballfans per Direktbus in die Donbass-Arena fuhren, liegt unmittelbar im Sichtfeld ihres brüchigen Hauses. Der 2012 stolz eröffnete Milliardenbau versorgte fast das gesamte Viertel mit Jobs. Als eine der Wenigen, die seit Beginn der Ukraine-Krise 2014 geblieben sind, ist Julia täglich Granatfeuer und Schusswechseln ausgesetzt. Die Straßen, auf denen einst die Autos in Richtung Flughafen fuhren, sind leer, zerstört und mit Schnee bedeckt.

Donezk ist Frontstadt. Seit 2014 versuchen aus Russland unterstützte Separatisten, die russischsprachige Ost-Ukraine von Kiew abzuspalten. Sogar eine eigene "Volksrepublik" haben sie ausgerufen. In dem Krieg in Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk starben nach UN-Angaben mehr als 10.000 Menschen.

Es ist schwer einzuschätzen, wie sich die Lage innerhalb der Separatistengebiete in der Ost-Ukraine gestaltet. Nur wenige Informationen dringen nach außen, die Reise ins Innere ist schwierig. Noch immer leben Millionen von Menschen in den besetzten Gebieten, versuchen sich im Kriegsalltag zurechtzufinden und sind gefangen zwischen den Fronten eines Konflikts, dessen Ende keiner kennt und dessen Zukunft niemand vorhersagen kann.

Seit 1950 lebt Julia in ihrem Haus. "Alle Häuser in meiner Straße sind geplündert. Nur eine Familie und ich sind übrig geblieben. Wir sind Zurückgelassene. Meine Tochter lebt in der Stadt, ist arbeitslos. Sie war früher Flugbegleiterin. Auch meine Mutter liegt in der Nähe begraben." Sie bekreuzigt sich. "Aber ich habe zu viel Angst, sie zu besuchen. Die Granaten, die Minen. Ich habe zu viel Angst. Als die Kämpfe tobten, knallte alles um mich herum so laut - ich habe nur gebetet, dass mein Haus verschont bleibt."

Ein paar Straßen weiter kehrt Larissa, 51, vor ihrem Haus. Auch sie gehört mit ihrem schwer verletzten Mann zu den Wenigen, die nicht flohen. "Den ganzen Krieg über bin ich hier gewesen", sagt sie. "Es machte mich krank. Alles hat gebrannt, das Haus meiner Nachbarin mit Kühen. Ich musste ihre Tiere verbrennen sehen, es war furchtbar." Politik sei ihr egal, sie wolle nur noch ein bisschen von ihrem Leben haben. Larissa blickt an sich herab - ihre Kleidung wechsle sie kaum noch. Sie ist dick eingepackt, der Winter ist brutal. Im Oktober 2014 sei ihr Mann schwer verletzt worden, Splitter in Rücken und beiden Beinen. "Wir gaben den Ärzten all unser Geld", sagt die Frau, "sie konnten nicht helfen. Mehrmals wurde unser Haus getroffen, jedes Mal haben wir es selbst wiederaufgebaut. Keiner hat uns geholfen. Es kamen Leute, die haben gefilmt, aber dann waren sie wieder weg. Man lässt uns allein."

Wenige Meter hinter ihrem Haus liegt ein alter Friedhof mit Blick auf den großen Flughafenterminal. Er sollte 2012 das Prestigeprojekt einer modernen Metropole werden. Nur das Skelett ist übrig. Plötzlich schlagen Granaten ein. Grauer Rauch steigt auf; für wenige Minuten bricht ein Feuergefecht aus. Dann wieder Stille. Eine alltägliche Situation, so dicht an der Frontlinie. Es gibt keinen Tag ohne Schusswechsel oder gegenseitigen Beschuss.

Ein paar Hundert Meter weiter, vorbei an zerschossenen Supermärkten, eingestürzten Plattenbauten und verwaisten Straßen, liegt der nagelneue Bahnhof Donezk. Er war für die Fußball-EM 2012 ebenfalls grundlegend modernisiert worden und ist nun seit Jahren ohne eine Zugabfertigung. Es sind die Kontraste, die die Stadt prägen.

Im Zentrum der Stadt liegt der breite und sauber hergerichtete Lenin-Platz. Die große Statue des Revolutionsführers auf dem Paradeplatz, umgeben von den Flaggen der selbst ernannten Volksrepublik Donezk, wird von einem eigenen Sicherheitsdienst bewacht. Ein beliebter Treffpunkt, eine Kulisse für Selfies, ein Ort zum Spazierengehen. Von der Lage in den Randbezirken bekommt man hier nichts mit.

Menschen schauen stets auf die Uhr, denn das Leben in der Stadt hat sich verschoben. Von 23 Uhr bis 5 Uhr morgens gilt eine Ausgangssperre. Kontrolliert wird sie von der Militärpolizei, die Stadt ist damit nachts militärisches Sperrgebiet. Die Straßen sind dann komplett verwaist. Die wenigen Clubs und Bars, die es noch gibt, beginnen ihre Partys deshalb schon um 17 Uhr. Hübsch hergerichtete Frauen und Männer bevölkern schon nachmittags die Straßen.

Keine 20 Minuten Fahrt mit einem der vollen Trolley-Busse entfernt zeigt sich im Kiewski-Distrikt der krasse Kontrast. Der von hohen Plattenbauten geprägte Bezirk ist besonders gefährdet. Vor allem die nach Westen gerichteten Fassaden wurden schwer beschädigt. Nadeschda, 49, betreibt einen der wenigen Läden. Kunden gibt es kaum noch. Ihr kleiner Lebensmittelladen wurde vor einem Jahr von einer Granate getroffen. Die meterhohen Fenster konnte sie bislang nicht austauschen, es fehlt das Geld.

Mit ihrer Tochter versucht sie, den Laden so lange wie möglich am Leben zu halten. "Es gibt keine Kunden mehr, trotzdem zahlen wir monatlich hohe Steuern", sagt Nadeschda. "Wir wollen den Laden schließen, aber die Menschen bitten uns, es nicht zu tun. Sie brauchen Brot und gefiltertes Wasser. Viele sind bei uns verschuldet. Wir wissen, dass wir von den Alten nichts zurückbekommen. Aber was sollen wir tun?"

Die Stadt liegt wie im Tiefschlaf. An vielen Orten kann man noch erkennen, was Donezk vor dem Krieg war: Menschen aus aller Welt, Bars, Restaurants, Konferenzzentren, Gewerbegebiete, ein großer Fußballverein mit einem hervorragenden Stadion. Nicht viel ist davon geblieben. Die wenigen Restaurants im Zentrum sind hochklassig, das Publikum: reiche russische Wirtschaftsvertreter oder Mitglieder der örtlichen Verwaltung. Die neue Bar "Separ" (als Anspielung auf die Separatisten) befindet sich nahe dem Administrationsgebäude.

In dem neuen Laden verkehrt Gerüchten zufolge auch der "Präsident" der international nicht anerkannten Volksrepublik, Alexander Sachartschenko. Der Raum ist dekoriert mit Abzeichen, Bildern und Gegenständen aus dem Krieg der vergangenen vier Jahre. Die russische Präsenz ist kein Geheimnis - nichts, worüber man in Donezk nicht spräche. Vielmehr wird der eigentliche Grund verschleiert, das Ausmaß und die Strukturen.

Die politische Lage ist angespannt. Nach Jahren beginnt nun intern die Debatte darum, wie man die leeren Immobilien der geflohenen Ukrainer der Volksrepublik zuführen kann. Öffentlich wird erklärt, solche Überlegungen gebe es nicht, niemand plane Enteignungen. Die Behörden versuchen sich intensiv darin, den Anschein zu erwecken, hier handele es sich um einen Staat. Plakate an den großen Straßen zeigen den "Präsidenten" und seine Aussage, alle Donezker kämen ursprünglich aus Russland.

Die Politik scheint die meisten Menschen ohnehin weniger zu beschäftigen. Alltagssorgen und Perspektivlosigkeit beherrschen alles. Viele in der Stadt wollen den Krieg vergessen, doch er holt sie im Alltag ein. Es gibt noch Orte, an denen Familien ihren Sonntag wie in alten Zeiten verbringen. Der Botanische Garten ersetzt beispielsweise den weggezogenen Zoo. Jeden Sonntag führt eine ältere Dame Besuchergruppen durch die Pflanzenwelten aus allen Teilen der Erde. Ein Ort, an dem man sich so fühlt, als sei man in anderen Ländern und Kulturen unterwegs. Es ist das, was die Menschen vermissen. Es ist Leben.

(RP)
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