Meerbusch 2013 – wie eine leere Leinwand

Meerbusch · Ein neues Jahr hat begonnen. 364 noch ungefüllte Tage, wie ein leeres Blatt Papier. Ein Gespräch mit der Künstlerin Marlies Blauth

 Die ersten zarten Striche können über den Charakter eines Bildes entscheiden: Marlies Blauths Hand mit Pinsel vor einer leeren Leinwand.

Die ersten zarten Striche können über den Charakter eines Bildes entscheiden: Marlies Blauths Hand mit Pinsel vor einer leeren Leinwand.

Foto: Ulli Dackweiler

Es ist dieser tröstliche Gedanke: Das alte Jahr ist zwar um, mit all dem Murks, der schlecht gelaufen ist, mit all den verpassten Chancen, dem Ärger, der Zeitnot, dem Zuviel an schlechten TV-Filmen und zu wenig an echten Leben, mit unserer Zögerlichkeit und unseren falschen Entscheidungen, aber nun ist es vorbei. Das neue Jahr ist angebrochen. 365 Tage und Nächte, unendliche Möglichkeiten. Wie ein noch ungeschriebener Roman, mit uns selbst als Romanheld. Wie eine leere Leinwand, auf der Tag für Tag besser sichtbar ein einzigartiges Kunstwerk entsteht: ein neues Kapitel unseres Lebens.

Aber dann das. Dieser untröstliche Satz von einer Frau, die es leider besser weiß. "Man kann ein neues Jahr nicht mit einer leeren Leinwand vergleichen", sagt, ach was, niederschmettert Marlies Blauth. Schon hunderte Male stand die Osterather Künstlerin vor der leeren Leinwand, setzte den ersten Strich. Und 2013 ist das 55. neue Jahr der vierfachen Mutter. Sie hat Erfahrung im Leben und in der Malerei gleichermaßen. Sie wäre die ideale Frau, die den Vergleich anstellen könnte. Aber sie sagt, das sei nicht möglich.

"Im neuen Jahr fangen wir ja in Wahrheit gar nicht ganz von vorne an", erklärt Blauth. "Wir nehmen ganz viel mit aus der Vergangenheit. Deshalb kann man ein neues Jahr nicht mit einer weißen Leinwand vergleichen."

Aber sie tröstet auch: "Es gibt durchaus Parallelen." Parallelen, das klingt schon viel besser als "nicht möglich". Parallelen, da ist eine zweite Ebene erkennbar. Eine, die es ermöglicht, Erfahrungen aus der Malerei aufs Leben zu übertragen?

Marlies Blauth tritt an ihre Staffelage, die sie schon ihr halbes Leben benutzt. Auf dem Holzgestell hat sich Patina angesetzt. Hauchdünne Schichten der Ölfarbe, die sie überwiegend nutzt, türmten sich dort im Laufe der Jahre auf. "Wir Maler fangen auch nicht bei Null an", sagt sie. Das betrifft beispielsweise die Leinwand. "Sie hat bereits Spuren, eine Struktur." Und es gebe noch eine Parallele zwischen einem Jahr und einem Kunstwerk: "Ein Bild legt immer Spuren in die Vergangenheit und in die Zukunft."

Viele Menschen schmieden Pläne für das neue Jahr, die ersten Termine sind schon im Kalender eingetragen. "Diese Pläne sind wie Skizzen, die man auf den Malgrund bringt", findet Blauth. Manche fürchten sich vor dem neuen Jahr. Hat sie auch Angst vor der weißen Leinwand? "Nein, aber früher hatte ich die mal." Mit 16 Jahren begann Blauth, ernsthaft zu malen. "Mir fehlte noch das Handwerkszeug, und die Leinwände waren damals sehr teuer. Da empfand ich Angst vor der Leere: ,Jetzt habe ich so viel ausgegeben, wenn das nichts wird, was machst du dann?'"

So negativ könnten auch die guten Vorsätze wirken, glaubt die Malerin. "Wenn man sagt: Das muss supergut, das muss perfekt werden - das blockiert nur." Mit steigender Erfahrung werde man gelassener. "Man weiß, wie es ist, ein Bild zu vermurksen. Perfekt ist ohnehin niemand. Man kann sich nur nähern", sagt Blauth. Der daher vielleicht einzig richtige gute Vorsatz: Gelassenheit.

Vielleicht ist ein einzelnes Jahr auch ein zu kurzer Sprung - der Mensch ändert sich nun mal selten in Jahresfrist, eher in Zyklen. "Als ich mit der künstlerischen Arbeit begann, habe ich deutlich mehr experimentiert als heute", erinnert sich Blauth. So ist es wohl auch im Leben: Erst sucht man seinen Weg, dann geht man ihn. Aber Veränderungen gibt es doch: "Da sehe ich eine Parallele zu den Arbeitsreihen eines Künstlers", sagt Blauth. "Als Variationen kann man die verschiedenen Jahre auffassen, sie sind immer gleich strukturiert und dennoch verschieden. Varianten eben."

Und noch eine Erkenntnis von Marlies Blauth aus der Kunst, die im Leben hilft: "Die einzelnen Tage sind verschieden. Ich kann fühlen, ob ein Tag gelb, blau oder grün ist." Das wirke sich auf das Werk aus. Und so muss man es auch im Leben machen: Die Stimmung spüren. Und auskosten. An jedem Tag des Jahres.

(RP)
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