Interview mit Reiner Bahr Wenn Kinder nur zu Hause sprechen

Mettmann · Zuhause können sie Quasselstrippen sein, doch im Kindergarten oder in der Schule sagen sie nichts. Reiner Bahr, Leiter der LVR-Wilhelm-Körber-Schule, erklärt morgen in Mettmann dieses Phänomen.

Ein Kind kann sprechen, tut es aber in der Öffentlichkeit nicht. Ist es dann nicht einfach schüchtern?

Bahr Es gibt einen Unterschied zwischen Schüchternheit und dem sogenannten "selektiven Mutismus". Dieser Mutismus ist ein anerkanntes Krankheitsbild, das etwa zwischen einem und sieben von 1000 Kindern betrifft, die Dunkelziffer dürfte aber höher liegen.

Und wo liegt der Unterschied zur Schüchternheit?

Bahr Wenn Kinder neu in eine Gruppe kommen, etwa in den Kindergarten oder die Schule, kann es vorkommen, dass es anfangs zurückhaltend ist. Auch Kinder, die die deutsche Sprache noch nicht können, brauchen oft eine Weile, bis sie vor anderen sprechen. Normalerweise gibt sich dies aber nach einiger Zeit und das Kind findet Kontakte. Bei Kindern mit selektivem Mutismus hält der Zustand aber an. Diese Kinder sind insgesamt schwer zugänglich. Sie schauen kontrollierend durch den Raum, sind angstbesetzt und verkrampfen körperlich. Wenn Erzieher oder Lehrer dieses Verhalten über einige Wochen beobachten, sollten sie einen Verdacht äußern.

Aber bemerken die Eltern das nicht selbst?

Bahr Häufig nicht, da die Kinder zu Hause ganz anders sein können. Manchmal sogar richtige Quasselstrippen. Eltern können allerdings beobachten, wie ihr Kind in sozialen Situationen reagiert, etwa beim Kinderarzt oder wenn es im Restaurant selbst bestellen soll.

Was passiert, wenn ein Kind die Diagnose bekommen hat?

Bahr Je eher es therapiert werden kann, desto besser. Es gibt zum Beispiel Logopäden, die darauf spezialisiert sind. Auch eine Behandlung bei einem Kinder- oder Jugendpsychologen spielt eine wichtige Rolle. Je älter die Kinder sind, desto mehr hat sich das Selbstbild als Person, die in der Öffentlichkeit nicht spricht, gefestigt.

Sie sind Schulleiter einer Sprachheilschule. Warum besuchen einige der Kinder die Sprachheilschule, wenn sie doch eigentlich richtig sprechen können?

Bahr Etwa fünf Prozent der Schüler an unserer Schule haben selektiven Mutismus. Sie können in kleinen Gruppen, im geschützten Rahmen unterrichtet werden. Außerdem wird bei uns im Gegensatz zu den Regelschulen die mündliche Mitarbeit bei diesen Kindern nicht bewertet. Die Schüler können ihr Selbstwertgefühl steigern. Bei einigen funktioniert dann in der fünften Klasse auch der Wechsel an eine reguläre, weiterführende Schule. Wir begleiten die Kinder und arbeiten sehr eng mit den Lehrern der neuen Schulen zusammen. Die fünfte Klasse bietet sich an, weil es dann sowieso neue Klassenzusammensetzungen gibt.

Wo liegen denn die Ursachen für den selektiven Mutismus?

Bahr In vielen Fällen sind die Kinder sehr behütet aufgewachsen, in Familien mit relativ wenigen Außenkontakten. Aber die Krankheit kann auch in der Familie liegen. Es stellt sich dann heraus, dass es zum Beispiel eine Tante oder einen Onkel gibt, der auch kaum spricht.

INA ARMBRUSTER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

(arm)
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