Gewalt und Randale bei Mottowochen in der Region Das Abitur ist keine Reifeprüfung mehr

Berlin · Seit dem 18. Jahrhundert werden junge Menschen geprüft, ob ihre Fähigkeiten ausreichen, eine Universität zu besuchen. Den Ritterschlag der bürgerlichen Bildung erhält mittlerweile die Hälfte eines gesamten Jahrgangs. Nach amerikanischem Vorbild feiern Abiturienten auch in Deutschland ihren Abschluss nahezu hemmungslos.

 Sonne, Alkohol, Sex: Die Tradition der wilden Spring-Break-Partys aus den USA ist längst auch in Deutschland angekommen.

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Foto: Splashline

Natürlich waren es die Preußen. Sie wollten nicht länger mitansehen, dass sich die Universitäten ihre Studenten selbst aussuchen. Ordnung musste sein, Latein und Griechisch auch. So mussten junge Menschen, zumindest in Preußen, seit 1788 eine Reifeprüfung ablegen. Das Modell setzte sich im Laufe der Jahre im gesamten deutschsprachigen Raum als Abitur, Matura oder Maturität durch und überstand eine Reihe von Bildungsreformen.

 Schwarze Kapuzenpullover und Sturmmasken: So zeigten sich Schüler bei Youtube. In diesem Jahr eskalierten in der Region zahlreiche "Abi-Partys".

Schwarze Kapuzenpullover und Sturmmasken: So zeigten sich Schüler bei Youtube. In diesem Jahr eskalierten in der Region zahlreiche "Abi-Partys".

Foto: Radowski/Youtube

Einer der Ersten, der allgemeinverbindliche Regeln für die Reifeprüfung schuf, war Wilhelm von Humboldt, der Bruder des großen deutschen Naturforschers Alexander von Humboldt. Er etablierte mündliche und schriftliche Prüfungen in allen Fächern. Sein Ideal war allerdings, dass die Schüler möglichst viel Freiheit erhalten und nach ihren Neigungen lernen sollten.

Das Abitur war damals ein Privileg für junge Männer aus der Oberschicht. 1896 durften erstmals in Berlin auch sechs Frauen die Reifeprüfung ablegen. Heute stellen Mädchen 53 Prozent eines Abiturjahrgangs, und sie haben im Durchschnitt bessere Noten als die Jungen. Mittlerweile macht jeder zweite junge Mensch in Deutschland das Abitur. Im Jahr 2011 erhielten rund 311 000 Schülerinnen und Schüler ihr Abi-Zeugnis.

1960 war das unvorstellbar. Damals kamen nur sieben Prozent eines Jahrgangs zu dem Privileg Abitur. Vom Humboldt'schen Bildungsideal der Freiheit und der Entfaltung konnte bei der strengen Erziehung der Nachkriegsjahre auch keine Rede sein. "Die jungen Menschen damals waren erwachsener, ernsthafter als die Schüler heute", sagt Hans-Peter Meidinger, Chef des Philologenverbandes und Schulleiter eines Gymnasiums in Bayern.

Nur 20 Jahre später, 1980, machten schon 22 Prozent eines Jahrgangs Abitur. Dazwischen lagen Studentenrevolution und Bildungsreformen. In deren Folge waren auch die Schüler selbstbewusster geworden, hatten ihre eigene Vertretung, ihre eigenen Sprecher. Der Drill an den Schulen war verschwunden. Seitdem ging es auch nicht mehr darum, sich nach alter Tradition reif fürs Leben zu zeigen, sondern schlicht den Wisch fürs Studium zu kriegen.

Die Oberstufenreform von 1972 hatte den Fächerkanon auf nur vier Fächer zusammenschnurren lassen. Zwischenzeitlich war es in manchen Bundesländern möglich, mit Biologie, Deutsch, Religion und Sport sein Abi zu ergattern. Und da die Schulen die Prüfungsaufgaben damals selbst stellten, war das Niveau des Abiturs von Schule zu Schule sehr unterschiedlich. In den 80er Jahren drängten weniger Leute an die Unis als heute, dementsprechend waren auch nur wenige Fächer mit einem Numerus clausus belegt. Studienort und Studienfach konnten die meisten Abiturienten frei wählen.

Nach dem Pisa-Schock und auf Druck der Hochschulen und der Wirtschaft besannen sich die Bildungspolitiker und hoben das Niveau des Abiturs wieder an. Zumindest landesweit führten sie zentrale Abiturprüfungen ein. Zudem sorgten die Bildungspolitiker dafür, dass immer mehr junge Menschen den Hochschulzugang schaffen. Dafür ist das Gedränge an den Unis mittlerweile enorm. Während einem früher mit Abitur die Welt des Studiums offenstand, gilt dies heute nur noch für Abiturienten mit einem sehr guten Durchschnitt. Die neue Notenkonkurrenz sorgt mitunter dafür, dass die Schüler heute viel mehr als vor 20 Jahren eine gute Note als echten Wert betrachten.

Der gestiegene Leistungsdruck mag ein Grund dafür sein, dass viele Schüler es nach dem Abitur mal so richtig krachen lassen wollen. Der Abi-Streich ist ein Kind der 80er Jahre. Damals begannen die Abiturienten, sich an ihrem letzten offiziellen Unterrichtstag der Schule zu bemächtigen. Meistens wurde einfach Party gemacht und mit ein paar einfachen, leicht zu beseitigenden Mitteln der Zugang für Lehrer und andere Schüler zur Schule erschwert. In Norddeutschland spricht man von der "Nulltagfeier".

Eskalationen habe es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Regionen immer wieder gegeben, sagt Meidinger. In großen Städten sei es meistens schlimmer als in ländlichen Gebieten. Auch das geringe Alter der Abiturienten, die teilweise noch 17 Jahre seien, könnte ein Grund für deplatzierte Abi-Streiche sein. Diesen sehr jungen Abiturienten fehle die Reife eben noch.

Der Lateinlehrer erinnert sich an einen Vorfall, als bei einem Nachbargymnasium schubkarrenweise Mist vors Lehrerzimmer gekippt worden war. Aus Meidingers Sicht hat das Schulklima einen entscheidenden Einfluss darauf, ob Abi-Streiche an einem Gymnasium aus dem Ruder laufen. Der Philologenverband-Chef lobt die Schulvereinbarung als Maßnahme, ein konstruktives Klima zu schaffen und damit Eskalationen zu vermeiden. Dabei schließen Lehrer, Eltern und Schülern einen Pakt. Er umfasst Regeln des Miteinanders wie Fairness und Toleranz, mancherorts werden sogar Kleiderordnungen vereinbart. "Wenn es solche Vereinbarungen gibt, stehen alle für den guten Ruf einer Schule", sagt Meidinger.

Während die Abiturienten in den 60er Jahren brav gescheitelt mit Schlips und Kragen ihre Zeugnisse entgegennahmen, genießen viele heute nach dem Abitur erst einmal ihre neue Freiheit. Neben den Abistreichen hat sich eine regelrechte Industrie entwickelt, die den jungen Leuten hilft, ihren Start ins Leben zu feiern. Einzelne Reiseveranstalter haben sich auf Abi-Reisen in Party-Metropolen spezialisiert, um den deutschen Schulabgängern eine Art "Spring Break" zu bieten. Partyveranstalter wiederum haben sich darauf spezialisiert, für viel Geld Abi-Bälle zu organisieren. Auch dieses Geschäft entwickelte sich vor allem in den vergangenen zehn Jahren.

(qua)
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