Ein Tag im Freibad Das hellblaue Lebensgefühl

Düsseldorf (RP). Da sollte man mal wieder hingehen, es lohnt sich: ins Freibad. Wer dort den Tag mit halb herabgelassenen Lidern verbringt, sieht die Welt, von süßem Chlorsommer-Dunst berauscht, ein bisschen milder. Die Tatsache, dass es in der Wirklichkeit eine Menge Dinge gibt, von denen man nichts weiß, beunruhigt Badende nicht. Sie haben Gewissheit: Die Wasseroberfläche verheilt nach jedem Einschlag von selbst zu neuem, glattem Blau. Und das Sprungbrett am Fünf-Meter-Turm nickt beschwichtigend mit leisem Flap-flap. Alles in Ordnung.

Freibäder rund um Mönchengladbach
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Foto: Ilgner

Es beginnt schon mit dem Durcheinander der Fahrräder vor dem Haupteingang, das lässt schmunzeln, da es ein Bild ist für Unbekümmertheit. Freibad ist immer auch Kindheit, weil man damals das alles hier aufgenommen und als Gefühl abgelegt hat, die Summe der Impressionen: die Badekappen mit aufgesetzten Gummiblumen. Das System der Bewegungen im Wasser. Die verschrumpelten Fingerkuppen. Der stockige Muff in den Umkleiden. Die Ekellust beim ersten Schritt mit bloßen Füßen im körperwarmen Feuchtschmutz. Der Nebel des Beckens, der das Licht in vagen Farben bricht. Der Klang.

Er ist ja überhaupt das Schönste am Freibad, der eigentümliche Sound mit seinem Grundrauschen, das in den Höhen von Mädchenschreien, Wasserplatschen und dem Zischen einer geöffneten Colaflasche durchbrochen wird. Das müsste man aufnehmen und auf CD brennen und hören, wenn einem ungut ist, und danach würde alles besser werden.

Elisabeth von Thurn und Taxis, die Tochter von Fürstin Gloria, schrieb neulich in der "Zeit" eine Reportage aus dem "Prinzenbad" in Berlin-Kreuzberg. Die Autorin geht so gut wie nie in Freibäder, sie habe wenig Freibad-Erfahrung, schreibt sie, das ist die Pointe der Geschichte. Und dennoch war sie beim Betreten der Badeanstalt aufgeregt. Sie notiert: "Ein bisschen mulmig zumute ist mir. Aber: Es ist durchaus auch ein guter Schauer. Spannung!" Freibad ist ein Ur-Gefühl, ein Geisteszustand, in den man eintreten kann, und wer sich nach Jahren neuerlich darin wiederfindet, kommt sich vor wie im Museum der Unschuld. Menschen im Freibad leben mit einem gesteigerten Grad der Empfänglichkeit.

Man müsste diesen Ort soziologisch erforschen, das würde erhellende Ergebnisse liefern. Der Edelmann Xavier de Maistre könnte dafür die Vorlage liefern. Ende des 18. Jahrhunderts wurde er für sechs Wochen unter Hausarrest gestellt, denn er hatte sich duelliert, und das war verboten. De Maistre, der gern und lustig lebte, litt darunter sehr, denn die Strafe wurde auf dem Höhepunkt der Ballsaison verhängt.

Um sich von der sinnlichen Entbehrung abzulenken, schrieb er ein Buch, einen Entdeckerbericht: "Reise um mein Zimmer". Er philosophiert darin über seine Möbel, und wer das gelesen hat, für den wird ein Bett nie mehr einfach bloß ein Bett sein. Die knapp hundert Seiten sind heute ein Klassiker, und sie waren zu ihrer Zeit so erfolgreich, dass de Maistre wenige Jahre später eine Fortsetzung veröffentlichte: "Nächtliche Expedition um mein Zimmer". De Maistres Bücher lehren, dass die Kunst des Reisens an das Schauen gebunden ist und nicht unbedingt darin besteht, dass man exotische Destinationen erkundet. Das wahre Ziel des Reisens ist es, sich selbst und seine Gedanken zu erforschen. Im Freibad gelingt das ganz hervorragend und vor allem: automatisch.

Bald wird einem auffallen, dass die Menschen hier leicht an der Art des Guckens zu charakterisieren sind. Jungs gucken verstohlen, wollen dabei möglichst lässig wirken. Gleichaltrige Mädchen gucken lockend und zugleich belustigt. Kinder gucken und staunen. Mütter gucken wachsam. Väter gucken ins Nichts, sie fokussieren erst, wenn dem Nachwuchs Gefahr droht, was so viel bedeutet wie: Anderer Junge nimmt meinem Jungen die Badenudel weg. Becken und Liegewiese sind Marktplätze des Lebens, aber sie liegen außerhalb des Alltags, das verleiht ihnen Magie.

Die schönste Erzählung über das Gefühl Freibad schrieb der amerikanische Autor David Foster Wallace. In "Für immer da oben" wünscht sich ein kleiner Junge von seinen Eltern einen gemeinsamen Tag im Freibad. Es ist sein Geburtstag, er möchte sich endlich trauen und zum ersten Mal vom Sprungturm ins Wasser tauchen. Es dauert zwölf Seiten, bis der Junge oben angekommen ist, und was er dort spürt, ist glitzernde Wahrhaftigkeit: "Außerhalb von dir vergeht keine Zeit. Es ist unglaublich. Das Wasserballett unten vollzieht sich in Zeitlupe und mit den überbreiten Mimen in blauem halb flüssigen Wackelpudding. Wenn du wolltest, könntest du ewig hier oben bleiben, innerlich vibrierst du so schnell, dass du scheinbar reglos über der Zeit schwebst, wie eine Biene über etwas Süßem."

Zum Freibad passt der alte Begriff Arglosigkeit, der heute von seiner ursprünglichen Bedeutung leider etwas entfremdet ist. Der Arglose ist ein heiterer Mensch, er fühlt keine Beschwernis. Ein Bild, das diesen Begriff illustriert, ist der Vater, der mit seinem kleinen Sohn aus der Umkleide kommt. Der Vater zog den Jungen in der Kabine zuerst um, dann musste er sich beeilen und sich selbst entkleiden, denn das Kind wollte sofort los — natürlicher Zug zum türkisen Erleben. Also kommen sie heraus, und wenn man den Vater mit der Umhängetasche voller Kram über der Schulter sieht und den Sohn, der wegen der breiten Schwimmringe mit ausgestreckten Armen tapst wie ein Pinguin, dann weiß man: Das ist Arglosigkeit.

Da sollte man mal wieder hingehen, ins Freibad. Es lohnt sich, weil auch Erwachsene schnell in eine angenehm sentimentale Stimmung kommen. Der Autor und Anarchist Erich Mühsam beschreibt in seinem jüngst erschienenen Tagebuch aus dem Jahr 1910 seine Bade-Erlebnisse in München und Umgebung; er hat immerzu gebadet, in Gesellschaft und allein. Er musste das Wasser nur sehen, und schon fielen ihm solche Verse ein: "Wo das Bächlein rauscht / wo die Schatten ziehn, / wo man Küssse tauscht / und die Sorgen fliehn".

Ganz leichte Zeilen, putzig-romantisch, und man weiß nicht, ob Mühsam mit dem anschließenden Satz das eigene Gedicht oder den Sprung ins Wasser meinte, und es ist auch egal, weil die Worte ja auf beides zutreffen: "Wenn das nicht schön ist!"

(RP)
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