Bei Marx, Freud und Nero Gruseln auf Londons Friedhöfen

London · Orte von melancholischer Schönheit sind Londons Friedhöfe, die noch aus der Zeit von Charles Dickens stammen. Am schönsten gruseln kann man sich auf dem Highgate Cemetery, wo der Rauschebart von Karl Marx aus dem Pflanzendickicht ragt.

Wohliges Gruseln auf Londons Friedhöfen
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"Suchen Sie Karl Marx?", fragt die alte Frau, die gerade ein Grab neu bepflanzt. Sie weiß, dass unsichere Blicke auf dem Highgate Cemetery immer nur eines bedeuten können: Touristen wissen nicht, wie sie im Gewirr der Kreuze, Gruften und Steinplatten zu "Charlie" finden sollen. "Da hinauf bis ganz zum Ende und dann links", lautet ihr Hinweis, dann wendet sie sich wieder den Pflanzen auf dem Grab vor ihr zu.

Entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts

Highgate Cemetery ist der spektakulärste der großen Londoner Friedhöfe, die alle noch aus der Zeit von Charles Dickens datieren. Man nennt sie "The Magnificent Seven", die Fantastischen Sieben.

Entstanden sind sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als sich die Einwohnerzahl der schon damals größten Metropole Europas auf mehr als zwei Millionen verdoppelte. Die innerstädtischen Kirchhöfe quollen über, sodass das Parlament 1832 ein Gesetz zur Gründung neuer, parkähnlicher Friedhöfe erließ.

Binnen neun Jahren entstanden daraufhin sieben "Cemeteries": Kensal Green, Norwood, Highgate, Nunhead, Brompton, Abney Park und Tower Hamlets.

Bis heute sind diese Ruhestätten ein Spiegelbild der viktorianischen Gesellschaft. So ist Highgate aufgeteilt in einen östlichen Teil für die Armen und einen westlichen, höher gelegenen, für die Reichen.

Upstairs, downstairs - das galt über den Tod hinaus. Marx wurde 1883 im Beisein von nur elf Trauergästen in einem Armengrab im Osten bestattet. Es lag ursprünglich 150 Meter hinter der Stelle, an der sich heute ein tonnenschwerer Bronzekopf erhebt.

Wenn darunter nicht "Workers of all lands, unite!" stehen würde, könnte man glatt meinen, dass hier der Weihnachtsmann begraben liegt, so rauschebärtig und knollennasig blickt der deutsche Philosoph auf seine Besucher herab.

Extravaganz und geschnittene Rasenkanten

Die große Attraktion ist der Westteil von Highgate. In seinen Anfangstagen war dieser Friedhof eine von vielen Gärtnern gepflegte Anlage mit goldbeschrifteten Grabplatten, exakt geschnittenen Rasenkanten und Extravaganzen wie der Egyptian Avenue, die mit ihren mächtigen Säulen dem damaligen Ägyptenkult frönte.

Da man in Highgate jedoch alle Gräber gleich für die Ewigkeit kaufte, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Friedhof voll belegt war und deshalb keinen Profit mehr abwerfen konnte.

Die meisten Bestatteten waren mittlerweile vergessen, es gab keine Angehörigen mehr, um die Gräber zu pflegen - so verfiel die Nekropolis.

Moos bedeckte Steine und Kreuze, Gräser und Farne überwucherten die Wege, Baumwurzeln ließen Gruften zerbersten.
Schließlich hatte sich der Friedhof in einen Dschungel verwandelt, einen Totenwald, durch dessen Blätterdach kaum noch Licht fiel.

Highgate als Drehort

Highgate war nun zu einem Ort geworden, wie ihn Hollywoods Horror-Spezialisten nicht besser erfinden könnten. Tatsächlich drehte Christopher Lee hier einen Dracula-Film, Teufelskult und Okkultismus wurden zelebriert.

Bis der Verein "Friends of Highgate Cemetery" 1981 beide Friedhofsteile übernahm. Seitdem haben ehrenamtliche Helfer den Wildwuchs zurückgeschnitten und zahllose Gräber restauriert, ohne die einzigartige Stimmung des langsamen Vergehens dabei wesentlich zu beeinträchtigen.

Die unheimlichste Stelle ist nach wie vor der Kreis der Katakombengräber, der von einer mächtigen libanesischen Zeder überragt wird. Die Gewölbe sollen eine Inspiration für Bram Stokers "Dracula"-Roman gewesen sein.

Fast jedes Grab erzählt eine Lebensgeschichte. Da ist das Mausoleum, das der aus Frankfurt stammende Geschäftsmann Julius Beer für seine achtjährige Tochter Ada errichten ließ, an einer besonders hoch gelegenen Stelle, so dass er es von seinem Wohnhaus in der Innenstadt aus jederzeit sehen konnte.

Nach heutigen Maßstäben bezahlte er Millionen dafür. Nicht weit entfernt davon ein schlafender Löwe: Nero, der Liebling des Tierschaustellers George Wombwell (1777-1850). Er soll so zahm gewesen sein, dass Kinder auf ihm reiten konnten.

Einen Besuch wert

Seit einiger Zeit werden auch im Westteil von Highgate wieder Gräber angelegt, und so kommen neue Schicksale dazu. Einer der jüngeren Grabsteine ist der des Kreml-Kritikers Alexander Litwinenko, der 2006 im Londoner Exil mit dem Strahlengift Polonium 210 ermordet wurde. Als Mörder verdächtigt die britische Staatsanwaltschaft einen Ex-Agenten des russischen Geheimdienstes.

Die melancholische Schönheit von Highgate ist unübertroffen, aber auch andere Londoner Friedhöfe sind einen Besuch wert. Brompton Cemetery - nur wenige Gehminuten vom Kaufhaus Harrods entfernt - zählt nicht weniger als 200 000 Gräber.

Ein ganzes Regiment von Engeln mit hängenden Flügeln betrauert verblichene Generationen. Mal knien die Grazien, mal sind sie wie tot niedergesunken. Hier fehlt eine Hand, dort ein Kopf, dann wieder ist ein Flügel abgebrochen.

Weniger morbide ist die Atmosphäre im Krematorium Golders Green, dessen Verstreuungsfeld als bevorzugte Ruhestätte Londoner Freidenker gilt. Statt pompöser Grabdenkmäler künden Urnen oder kleine Tafeln von Berühmtheiten wie der Schriftstellerin Enid Blyton ("Hanni und Nanni"), dem Schauspieler Peter Sellers ("Der rosarote Panther") oder dem Popstar Keith Moon von The Who.

Die Asche Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse, wird seinem Wunsch entsprechend in einer griechischen Vase aus seiner Antikensammlung aufbewahrt.

Ob man nun über die Pfade von Highgate, Golders Green oder Brompton spaziert, immer nimmt man etwas mit, wenn man danach unter die Lebenden zurückkehrt: Das "Eilt sehr", "Wichtig" und "Höchste Priorität" hat etwas von seiner Dringlichkeit verloren.

(dpa)
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