Hoch die Tatzen! Unterwegs mit dem Eisbärenflüsterer

Churchill · Churchill in Kanada vermarktet sich als Welthauptstadt der Eisbären. Nirgends ist man den weißen Riesen so nahe wie auf einer Tour durch die Tundra. Ohne bewaffnete Bodyguards sollten Besucher aber besser nicht unterwegs sein.

Eisbären in Churchill
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Eisbären in Churchill

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"Bärenmama, das ist nah genug!" Mit tiefer Stimme haucht Terry Elliot der Bärin die Worte entgegen. Diese setzt ihre dicken Tatzen behäbig voreinander und bleibt dann stehen. 30 Meter ist das Raubtier noch von den Touristen entfernt, aber das ist nicht das Problem. Das Problem ist das Junge, das noch näher herangetapst kommt.

Die Bärenmama gähnt. "Ein Zeichen von Stress, sie sorgt sich um das Junge", flüstert Elliot. "Bleibt jetzt dicht zusammen!" In der Gruppe, so hatte der Guide zuvor erläutert, sei man sicherer vor Attacken der weißen Tundrabewohner. Und im Ernstfall zu türmen, habe ohnehin keinen Sinn. "Eisbären sind schneller als ein Rennpferd."

Steine zur Abschreckung der Bären

In seiner Jackentasche kramt der Touristenführer mit Zottelbart und langem Zopf nach ein paar dicken Steinen, die er zur Abschreckung den Bären entgegen werfen will, doch da hoppelt der Kleine wieder in Richtung Mama. Die Situation entspannt sich.

Wäre es richtig brenzlig geworden, hätte Elliot nach einem Steinwurf die Schreckschusspistole gezogen oder als letzte Maßnahme eine Ladung Schrot in die Nähe der Tiere abgefeuert. Meistens reicht aber ein Schneeball. "Wenn sie getroffen werden, hauen sie ab, sie mögen keine Berührung." Doch äußerste Vorsicht soll das Motto dieser Tage in der Lodge am gefrorenen Dymond-See bleiben.

Mitten in der Tundra

Der Aufenthalt in der gezimmerten Holzhütte, mitten in die Einsamkeit der Tundra Manitobas ist wahrhaftig exklusiv - trotz Stockbetten, nackten Energiesparbirnen und der Abwesenheit von Föns. Wann hat man schon einmal mit Jagdgewehren bewaffnete Bodyguards?

Die schärfen einem immer wieder ein: "Vergesst nicht, Ihr dürft die Lodge nie ohne uns verlassen! Jederzeit könnte ein Eisbär um die Ecke biegen." Oder wann hat man schon einmal ein zweijähriges Knuddeltier aus Fleisch und Blut vor der Hüttentür, das sich dort mit dem köstlich duftenden Schuhwerk der zweibeinigen Eindringlinge beschäftigt? Es ist eine umgedrehte Zoo-Situation, draußen das Tier, drinnen die aufgeregten Gäste.

Kanadas Provinz Manitoba

An kaum einem anderen Ort der Erde lassen sich Eisbären so gut beobachten wie in der Gegend um Churchill in Kanadas Provinz Manitoba. Hier fließen zwei Flüsse in das riesige Randmeer der Hudson Bay, das dort wegen des Süßwassers früh gefriert. Von hier aus brechen zum Winter viele Eisbären auf zur Robbenjagd auf der erstarrten Bucht.

"Die Konzentration an Eisbären hier ist weltweit die höchste", sagt Elliot. Nur das norwegische König-Karl-Land bei Spitzbergen und die russische Wrangelinsel nördlich von Sibirien könnten mit Churchill mithalten, seien aber schlechter zu erreichen. 900 bis 950 Eisbären zählt die Western-Hudson-Bay-Population, noch vor zehn Jahren waren es 1200. Immer länger bleibt die Bucht eisfrei, immer kürzer wird die Jagdsaison. Der Klimawandel trifft auch die Bären. "An einem Tag im Sommer waren wir mit 37 Grad der heißeste Ort Kanadas", sagt Elliot.

Welthauptstadt der Eisbären

"Welthauptstadt der Eisbären" - mit diesem Beinamen schmückt sich Churchill mit seinen rund 900 Einwohnern. Im Grunde aber ist dieses Etikett nichts als eine große Verbeugung vor dem Eisbären, denn ohne ihn wäre Churchill wohl eine Geisterstadt. Als in den Achtzigern die im Zweiten Weltkrieg errichtete Militärbasis geschlossen wurde, verließen viele Einwohner Churchill, und mit dem Handel von Fell war ohnehin kein Geld mehr zu verdienen. Es ging wirtschaftlich bergab.

"Doch dann entdeckte man die Eisbären für den Tourismus", sagt Nolan Booth, Lodge-Manager am Lake Dymond. "Damals wurden die Touristen zur Müllhalde in Churchill gefahren, der Gestank zog die Bären an." Aber zu viele der Futtersuchenden kamen und hielten nicht nur als Beobachtungsobjekt her, sondern wurden auch zur Bedrohung der Einwohner, denn sie wanderten immer öfter bis in die Stadt. "Heute gibt es keine Halde mehr, der Müll wird per Zug abtransportiert."

Mit dem Wagen raus in die Tundra

Wenn Eisbärentouristen heute den Tieren nahe kommen wollen, dann besteigen sie in Churchill entweder einen Tundra Buggy oder einen Polar Rover. Dies sind bullige Allradgefährte mit bis zu 40 Plätzen, 1,70 Meter hohen Reifen und 2 Meter Bodenfreiheit, die auf Wegen des ehemaligen Militärareals unweit der Stadt am Ufer der Hudson Bay für einen Tagessatz von rund 400 Dollar pro Person auf Tour gehen. Oder sie leisten sich für etwa 20 Minuten einen Hubschrauber, der einsame Hütten wie die am Lake Dymond ansteuert.

Dort ist die Welt verwunschen und auf den ersten Blick eintönig.
Doch bei der Pirsch zu den Eisbären, die sich erstaunlich gut versteckt halten, schärft sich der Blick für Details. Vieles ist klein in den Ausläufern des Waldes. Es gibt Krüppelbirken und Rhododendren mit winzigen Blättern. Kleine Schwarz- und Weiß-Fichten wirken wie Bonsaibäume. "Sie sind zwar nur 1,50 Meter hoch, aber Jahrhunderte alt", sagt Elliot. Ganz zu schweigen von den Flechten und Moosen. Wie auf einer Weichmatte laufen die zahlenden Expediteure über den Permafrostboden.

Spuren im Schnee

Wo schon Schnee liegt, sieht man, dass auch andere unterwegs sind.
Elliot zeigt seinen Gästen Spuren von Polarfüchsen und Vielfraßen, Rentieren und Lemmingen. Erst bei der Rückkehr zur Lodge sind auch wieder Eisbären in Sicht. "Es sind die Mama und ihr Junges. Eisbären lieben den Geruch der Menschen, deshalb halten sie sich gern in der Nähe der Hütten auf", erklärt Elliot. Und so kann es schon einmal vorkommen, dass ein Bärengesicht am Fenster auftaucht, während drinnen zum Mittag das Besteck klappert.

Die Nähe der großen Fleischfresser sorgt zuweilen aber auch für Unmut. Während Menschen wie Elliot sie als Attraktion präsentieren, haben es die Ranger in Churchill mit den Problembären zu tun.
"Neulich mussten wir einen 270-Kilo-Kerl erschießen", sagt Bob Windsor, einer von sechs sogenannten Natural Ressource Officers in Churchill, eine Neun-Millimeter-Pistole am Gürtel. "Wir haben versucht, ihn mit dem Pick-up aus der Stadt zu vertreiben.
Schließlich rannte er uns ins Auto. Sehen sie die Beule? Ich hatte Angst, dass das wild gewordene Tier durch das Seitenfenster kommt."

Eisbärengefängnis für unartige Bären

Das Erschießen sei nur in solchen Notfällen eine Lösung, versichert der 49-Jährige. Bären, die bevorzugt nachts durch die Straßen zögen, würden normalerweise betäubt und ins Eisbärengefängnis gebracht. In diesem weltweit wohl einzigartigen Gebäude am Stadtrand sitzen mal 10, mal 30 Eisbären ein. "30 Tage bleiben sie dort, bekommen keine Nahrung und nur Wasser, dann werden sie ausgeflogen." Von Gefangenschaft und Diät verspreche man sich, die Tiere abzuschrecken und damit dauerhaft fernzuhalten. Doch funktioniert das laut Windsor nur bedingt.

Also bleiben Churchill und der Eisbär bis auf Weiteres miteinander verbunden - mit einem sympathischen Nebeneffekt auf das soziale Leben. Denn der Eisbär zwingt die Einwohner zwar in dauerhafte Hab-Acht-Stellung, sorgt aber zugleich für menschliche Nähe. "Wir vertrauen einander sehr", sagt Guide Elliot. "Wir schließen die Türen unserer Häuser und Autos nicht ab." Drohe eine ungemütliche Mensch-Eisbär-Begegnung, könne man schnell Unterschlupf finden.

Doch das Zusammenspiel von Raubtier und Mensch ist voraussichtlich nicht von unbegrenzter Dauer. Nach Angaben der Schutzorganisation Polar Bears International werden die Eisbären gegen Mitte des Jahrhunderts von den Ufern der Hudson Bay verschwunden sein.

"Schon jetzt zeigen sie ein sehr ungewöhnliches Verhalten, sie fressen aus Hunger manchmal Krähen- oder Preiselbeeren, was sonst nur schwangere Tiere tun", hat Touristenführer Elliot beobachtet. Seine Gäste interessiert in diesem Moment etwas anderes: Das Junge rollt sich auf den Rücken, wirft die Tatzen in die Luft und steckt die Nase in den Schnee. Die Mutter steht daneben und sieht zu. Gähnen muss sie nicht. Der Abstand von Mensch und Tier ist in diesem Moment groß genug.

(dpa)
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