Breitensport Deutsches Turnfest — über 150 Jahre Tradition

Mannheim/Düsseldorf · Am Samstag beginnt in der Rhein-Neckar-Region das große Fest des Breitensports. Seine Geschichte reicht bis in die Anfänge der deutschen Turnbewegung Mitte des 19. Jahrhunderts zurück. Das erste fand 1860 im fränkischen Coburg statt.

Turngau Mönchengladbach: 150 Jahre Sport
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Riegen- und Schauturnen, Ringkampf und Dauerlauf gehörten zum Programm. Genau wie Festzüge mit schwarz-rot-goldenem Banner und Festgesänge. Ein paar Gemeinsamkeiten gibt es — bei allen Unterschieden — zwischen dem "Internationalen Deutschen Turnfest", das morgen in der Rhein-Neckar-Region rund um Mannheim beginnt, und dem ersten "Deutschen Turn- und Jugendfest" doch. Auch kommende Woche wird geturnt, gekämpft und gelaufen. Es gibt Umzüge und viel Gesang.

Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha unterstützte im Juni 1860 das Turnfest "mit großem Wohlwollen", wie es heißt. Er empfing sogar eine Abordnung der Sportler. Aus 130 Orten traten 970 Teilnehmer zu Schaudarbietungen und zu Turnspielen an. Heute übernachten die meisten Turnfest-Teilnehmer in Schulgebäuden, damals bekamen sie Kost und Logis in 800 Privatquartieren. Anlass für die Zusammenkunft unter dem Motto "Ruf zur Sammlung" war das Gedenken an die Schlacht von Waterloo und den Sieg über Napoelons Truppen 45 Jahre zuvor.

Die Turnbewegung war gerade im 19. Jahrhundert eine politische. Deutlich wurde das auch bei der zweiten Auflage — 1861 in Berlin. Sie erinnert an den Bau des ersten deutschen Turnplatzes im Jahr 1811 auf der Hasenheide in Neukölln. Friedrich Ludwig Jahn hatte die Freiluft-Arena eingerichtet und unter anderem mit Geräten ausgestattet, die bis heute in Schulturnhallen zu finden sind: Kletterseile, Kletterstangen, Turnringe und -pferde.

Jahn setzte das Turnen als Mittel der "Volkserziehung" ein. Die Befreiung Preußens von der französischen Besatzung, die Überwindung der feudalen Ordnung und die Gründung eines Nationalstaats verfolgte er als Ziel. Die "Pflege vaterländischer Gesinnung" gehörte zum ideologischen Überbau. Dass Friedrich Ludwig Jahn am 31. Mai wie Handballer Joachim Deckarm und Fernsehmoderator Harry Valérien in die "Hall of fame" des deutschen Sports aufgenommen wird, stößt bei Sporthistorikern auf Kritik.

Auf den von Jahn erdachten Turnplätzen wurden patriotische Reden gehalten und Lieder gesungen. Turner beteiligten sich in den Lützowschen Freikorps an den Befreiungskriegen gegen die Franzosen. 1820 verbot Preußen jedoch diese politische Bewegung ("Turnsperre"), Jahn wurde inhaftiert.

Erst Mitte des Jahrhunderts erkannte Preußen in den Leibesübungen "einen notwendigen und unentbehrlichen Bestandteil der männlichen Erziehung". Gründe dafür waren vornehmlich die Sorgen um die Gesundheit der Bevölkerung und vor einem Mangel an Offiziersnachwuchs. Die Erziehung zum Untertanen galt als Ziel der preußischen Turnerei.

Vor diesem geschichtlichen Hintergrund fand 1860 in Coburg das erste Turnfest statt. Ein aus heutiger Sicht arg deutschtümelnder Unterton gehörte viele Jahrzehnte dazu. "Vaterland, nur Dir!" lautete zum Beispiel das Motto des Turnfests, als die Aktiven 1913 des 100. Jahrestags der Völkerschlacht von Leipzig gedachten. "Für deutsches Volkstum, deutsche Einheit, Ehre und Frieden" hieß es 1923 in München und fünf Jahre später in Köln: "Deutsch bleibt der Rhein, frei bleibe Deutschlands Schicksalsstrom." Das Rheinland war damals von Franzosen, Engländern und Belgiern besetzt. Zu einer vielbeachteten politischen Demonstration geriet die Staffel entlang des Rheins von Basel nach Köln. Über 2000 Kilometer legten die 2500 Turnerinnen und Turner zurück.

1933 bemächtigten sich die Nationalsozialisten des Turnfests, das unter der Schirmherrschaft des Reichspräsidenten Paul von Hindenburg stand. 600 000 Festbesucher, 150 000 Festzugteilnehmer und 120 000 aktive Teilnehmer sorgten für Superlative. An den Freiübungen nahmen 60 000 Turner teil. Das Fest geriet zur Heerschau für Adolf Hitler.

Seinen friedlich-fröhlichen Charakter bekam das Turnen nach dem Krieg zurück. Dass aus dem "Deutschen Turnfest" 2005 in Berlin das "Internationale Deutsche Turnfest" wurde, verrät viel über den modernen Charakter dieser großen Party, deren Stimmung an einen Kirchentag erinnert. Ideologisch belastet ist die aktuelle Auflage sicherlich nicht.

(RP/seeg)
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