Loveparade Das Leiden endet nie

Duisburg · Marko Finken war am 24. Juli 2010 einer der ersten Sanitäter am Unglücksort in Duisburg. Der 44-Jährige kann die Toten nicht mehr vergessen.

Zwei Tage später merkt Marko Finken, dass es nicht mehr geht. Erschöpft bricht der Rettungssanitäter während der Arbeit zusammen. Es ist Montag, der 26. Juli 2010. Zwei Tage sind seit der Katastrophe auf der Loveparade in Duisburg vergangen, als ihn die Ereignisse von seinem Einsatz an diesem Tag einholen - er ist einer der ersten Helfer am Unglücksort gewesen. Der damals 40-Jährige muss sich krank melden. Die Bilder der Toten und Verletzten tauchen nun immer öfter vor seinem geistigen Auge auf. Er wird sie nicht mehr los. Tagsüber nicht und nachts in seinen Träumen erst recht nicht.

Bald viereinhalb Jahre ist die Massenpanik auf der Loveparade nun schon her, bei der am 24. Juli 2010 in Duisburg 21 Menschen ums Leben kamen und mehr als 650 verletzt wurden. Die Zahl der Traumatisierten lässt sich bis heute nur schätzen. Aber es müssen Tausende sein, vermuten Experten. Mindestens sechs Menschen sollen sich seitdem das Leben genommen haben, "weil sie das seelisch nicht verkraftet haben", sagt Jörn Teich, ein Sprecher der Loveparade-Opfer. Auch ein Rettungssanitäter sei darunter.

Marko Finken ist bis heute nicht mehr an der Unglücksstelle gewesen. "Das packe ich nicht", sagt er. Es fällt ihm noch immer schwer, darüber zu sprechen.

Finken sitzt auf seiner Couch im Wohnzimmer und schenkt sich aus einer Thermoskanne eine Tasse Kaffee ein. Er atmet schwer, als er zu erzählen beginnt von dem Tag, der sein Leben verändert hat. Finken ist am 24. Juli 2010 als Rettungssanitäter an einer Schule stationiert, die nur wenige Hundert Meter vom Karl-Lehr-Tunnel, dem Unglücksort, entfernt liegt. Kaum ein Rettungssanitäter ist an diesem Tag näher dran. Finken fallen zu Einsatzbeginn zunächst die Handfunkgeräte auf, "weil sie uralt gewesen sind, aus einem Polizeibestand. Völlig ungeeignet für den Einsatz auf so einer Großveranstaltung". Er fragt bei der Einsatzleitung nach. Doch da wiegelt man ab.

Viereinhalb Jahre nach der Katastrophe lebt der 44-Jährige zurückgezogen in einer Zweizimmerwohnung auf einem 900 Jahre alten Gutshof in Herzogenrath, der kilometerweit umgeben ist von Ackerflächen. Ruhig, still, abgeschieden - Finken braucht das. Seit dem 19. März 2012 hat er nicht mehr gearbeitet, ist dauerhaft berentet. Er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Die Krankheit kann jeden treffen, der etwas Schlimmes erlebt hat - etwa einen Kriegseinsatz. Bei Finken ist der Auslöser die Loveparade gewesen. 25 Jahre hatte er davor als Rettungssanitäter gearbeitet. Äußerlich merkt man ihm sein Trauma kaum an. Marko Finken ist groß und kräftig, er ist ein gepflegter Mann mit festem Händedruck, der sich seit seiner Jugend ehrenamtlich engagiert hat, als Schulsprecher am Gymnasium, als Trainer bei der DLRG. Er ist sogar Landtagskandidat der FDP in Aachen gewesen.

Finken schenkt sich Kaffee nach und lehnt sich zurück. Was er dann erzählt, habe er auch der Staatsanwaltschaft schriftlich zur Aussage gegeben. Etwa gegen 16 Uhr sei ein Lotse, der ortsfremde Einsatzkräfte durch die Stadt leitet, mit den Worten "Ich suche euch schon überall" in die Schule gestürmt. Es gebe eine zu reanimierende Person im Karl-Lehr-Tunnel. Dieser Einsatzbefehl ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit 15 Minuten raus. Doch weil die Funkgeräte nicht richtig funktionierten, sei die Nachricht vorher nicht zu Finken und seinen Kollegen in der Schule durchgedrungen.

Finken fährt sofort mit dem Rettungswagen los. Die Verbindung ist schlecht, die Leitung rauscht und knarzt. Finken geht von einer Schlägerei unter Betrunkenen aus. Vielleicht eine Messerstecherei. Von der Massenpanik ahnt er nichts.

Im ersten Jahr nach der Tragödie versucht Finken alles, um sein Trauma zu verarbeiten. Er spricht mit Freunden, Verwandten und Seelsorgern. Seine Gedanken und Gefühle beschreibt er sogar auf 45 Seiten in einem kleinen Büchlein, das er unter Pseudonym ein Jahr nach der Katastrophe bei einem Bezahlverlag veröffentlicht. Im Vorwort schreibt er: "Die Loveparade 2010 sollte eine große Party werden."

Die Thermoskanne ist leer. Finken geht in die Küche, um neuen Kaffee aufzusetzen. Dann beginnt er, von den Toten zu erzählen. Acht Minuten nachdem der Lotse in die Schule gestürmt ist, parkt Finken seinen Rettungswagen unterhalb der Rampe. Er ist mit der erste Helfer am Unglücksort. Für einen kurzen Augenblick ist er starr vor Entsetzen, als er auf die vielen leblosen jungen Körper zu seinen Füßen blickt. Er kann sich nicht erklären, warum es so viele Tote gibt. Verzweifelt kämpfen junge Menschen vor seinen Augen um das Leben ihrer Freunde, Brüder und Schwestern. Sie drücken auf die Brustkörbe, machen Mund-zu-Mund-Beatmung und versuchen, Blutungen zu stillen. "Ich dachte an einen Terroranschlag."

Finken sagt, dass anfangs viel zu wenige Retter da gewesen seien. Er selbst kann sich nur an sechs Kollegen erinnern. Verstärkung sei erst nach einer Stunde eingetroffen. Aus dem späteren Einsatzprotokoll geht hervor, dass es wohl tatsächlich zu wenige Sanitäter waren in der ersten Stunde. So lautet ein Funkspruch noch um 17.10 Uhr: "Dringend Sanitäter runter in den Tunnel."

Finken, der zu diesem Zeitpunkt schon eine Stunde versucht, Leben zu retten, führt das auf eine schlechte Organisation zurück. "Die nachfolgenden Rettungsfahrzeuge, die in der Nähe stationiert waren, wurden einfach nicht informiert", sagt er. "Sie wurden schlichtweg vergessen." Stattdessen seien Rettungskräfte im weiter entfernten Innenstadtbereich alarmiert worden. Die seien allerdings viel zu weit weggewesen, um schnell vor Ort sein zu können. Auch diese Aussage sei bei der Staatsanwaltschaft hinterlegt. "Die vielen Verletzten hätten zeitnaher behandelt werden können, wenn direkt mehr Retter da gewesen wären", sagt er mit fester Stimme.

Die posttraumatische Belastungsstörung ist bei Finken mittlerweile chronisch. In den Gutachten der Therapeuten heißt es, dass er es nicht schaffe, die Geschehnisse auf der Loveparade hinter sich zu lassen.

Dazu trägt offenbar auch die Unfallkasse NRW bei, mit der er seit Jahren über Kreuz liegt. Denn die meint, dass seine Arbeitsfähigkeit nur zu 30 Prozent eingeschränkt sei. Die Kasse fordert ständig neue Gutachten, um den Endstand seiner Erkrankung zu bestimmen.

Immer wieder muss Finken sich deshalb mit den Geschehnissen auf der Loveparade auseinandersetzen. Alte Wunden brechen auf. Dabei attestieren bereits 24 Berichte, vier Entlassungsberichte aus Krankenhäusern und diverse Gutachten seine Krankheit. Insgesamt 900 Seiten umfasst seine Krankenakte.

Finken erinnert sich noch einmal an den 24. Juli 2010. Nach anderthalb Stunden wird er am Unglücksort abgelöst. Er geht zurück zur Schule. Auf dem Weg kommt er an Hunderten Menschen vorbei. Sie sind alle still oder weinen. Laut sind nur die Sirenen der Einsatzfahrzeuge und die Hubschrauber, die die Verletzten ausfliegen. Als er an der Schule ankommt, trifft er auf Kollegen. Er fragt sie, wo sie waren. Sie antworten, sie hätten keinen Einsatzbefehl bekommen.

(RP)
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