Interview: Ines Geipel "Doping hat unsere Körper verdreckt"

Bonn · 25 Jahre nach dem Fall der Mauer werden die Folgen des DDR-Sports sichtbar. 700 Opfer haben sich im vergangenen Jahr gemeldet. Im heutigen Sport erkennt Ines Geipel viele Indizien für Manipulation. Sie spricht von "unglaublicher Maskerade".

Geipel sagt über sich: "Ich bin das Sternchen." Dort, wo in den Rekordlisten der deutschen Leichtathletik einst der Name der DDR-Sprinterin stand, ist heute nur noch ein Sternchen. Geipel hat ihren Namen streichen lassen, weil ihre Bestleitungen Resultate des DDR-Dopings waren. Bärbel Wöckel, Ingrid Auerswald und Marlies Göhr, mit denen sie vor 30 Jahren in Erfurt als Team des SC Motor Jena den Weltrekord für Vereinsmannschaften aufstellte (42,20 Sekunden), stehen noch in der Liste. Geipel (54), Professorin an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" in Berlin, leitet den Verein Dopingopferhilfe. 25 Jahre nach dem Fall der Mauer hört sie täglich von den Spätfolgen des menschenverachtenden DDR-Sports.

Frau Geipel, welche Folgen des DDR-Dopings sind heute zu erkennen?

Geipel "Die Schäden werden jetzt erst wirklich sichtbar. Ein konspiratives System ohne jede Form der Aufklärung braucht besonders viel Zeit, bis die Betroffenen zu ihren Geschichten kommen. Ost und West haben sehr lange gewartet, etwas zuzugeben. Wir haben die Beratungsstelle für Dopingopfer in Berlin seit einem Jahr. 700 Menschen haben sich dort gemeldet. Das sind 700 Leben und Tode - wie der des Gewichthebers Gerd Bonk vorletzte Woche. Es beschäftigt uns, wie viele Geschichten wir erzählt bekommen, wie viel Not, wie viele Hilferufe wir hören. Zum Beispiel: ,Können Sie mir helfen? Ich war Turnerin, bin heute 45. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Kann man in meine Wohnung einen Lift einbauen?' Der Schaden ist immer ganz konkret."

1968 entschieden DDR-Sportfunktionäre, Sportlern das Medikament Oral-Turinabol zu verabreichen. Nach den Erfolgen gedopter Athleten bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko kam es wenig später zum breiten Einsatz. Ab 1974 ließ die DDR-Sportführung das Mittel in den Sport-Leistungszentren verabreichen. 15 000 Athleten wurden so gedopt.

Welche Dopingfolgen mussten Sie am eigenen Leib erfahren?

Geipel "Der Körper ist verdreckt, vergiftet. Die Organe sind angegriffen. Bei mir ist das mit einem Zersetzungsvorgang verbunden. Ich musste Operationen über mich ergehen lassen, die nicht nötig waren. Man hat den Körper außer Kraft gesetzt.Viele frühere Athleten sitzen in Psychiatrien. Manche haben behinderte Kinder zur Welt gebracht. Wir hören oft von Herzproblemen und von Krebsfällen. Durch die Steroide hast du im Training eine ganz andere Belastung fahren können. Dadurch sind die Körper verbrauchter. Rückenschäden und Arthrose sind Folgen davon. In Greifswald und Schwerin werden Spezialabteilungen in Kliniken aufgebaut. Das Wichtigste ist, dass es Ärzte gibt, die mit diesen Folgen der Chemie umgehen können."

Obwohl auch die Dopingstrukturen im Westdeutschland der 1970er und -80er Jahre immer deutlicher werden, melden sich kaum Opfer aus der alten Bundesrepublik. West-Athleten, so meint Geipel, täten sich schwerer damit, über die Vergangenheit zu sprechen, weil sie sich verantwortlicher für ihr Tun fühlen, weil auf ihrer Seite des Eisernen Vorgangs individueller gedopt wurde.

Die Dopingopferhilfe hat sich zuletzt mit der Bitte um Unterstützung an den Deutschen Olympischen Sportbund, den Bundespräsidenten und die Bundeskanzlerin gewendet. Keine oder unzureichende Antworten kamen. Der Ruf nach einer Rente für die Opfer verhallt.

Geipel "Es gibt kein Mitgefühl. Wir lieben den Glanz, wir lieben die Medaillen, aber für die Nachgeschichte haben wir keine Verantwortlichkeit. Nicht im Sport, nicht in der Politik."

Beim Journalisten-Workshop der Nationalen Antidoping-Agentur (Nada) mahnte sie nun an, die Opfer nicht zu vergessen: "Wenn wir unsere Talente heute schützen wollen, müssen wie die Dopingvergangenheit endlich aufarbeiten. Wir haben keine Zeit. Denn die Athleten sterben." Die Differenz zwischen der Doping-Realität und den Kontroll-ergebnissen der Nada sei viel zu groß, sagte sie. Sie bezog sich auf eine Untersuchung, nach der bis zu 60 Prozent der deutschen Spitzensportler Dopingmittel einnehmen würden.

Können Sie den Sport heute noch genießen?

Geipel "Man kommt nicht mehr in den Stand der Unschuld. Ich gucke Sport, weil es mein Job ist als Vorsitzende der Dopingopferhilfe. Die veränderte Physis fällt auf, die andere Performance beim Fußball. Ich sehe zum Beispiel diese Fettlosigkeit. Die anderen Gebisse, die anderen Ohren, die Nasen - jeder sieht das doch. Wir haben nicht diesen eindeutigen Beweis. aber wir haben doch sehr viel, sehr sprechende Indizien für den veränderten Sport. Wir sind in einem neuen Spiel. Das ist eine unglaubliche Maskerade. Es geht um Schatten, um Spuren. Dieses klassische Steroiddoping ist nicht mehr Thema. Der Cocktail ist Thema, der maskierende Cocktail.

(RP)
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