Biathlon-Olympiasiegerin von einst Für Antje Harvey zählt nur noch die Familie

Herber City (dpa). „Ich bin total glücklich hier. Ich kann von Glück reden, dass ich hier bin.“ Antje Harvey, die vor neun Jahren als Antje Misersky Biathlon-Olympiasiegerin geworden war, strahlt. Mit Wohlgefallen blickt sie auf ihre vierjährige Tochter Hazel. Die blonde Kleine malt pausenlos Bilder und schenkt sie dann ihrer Mutter. „Ich bin eine glückliche Mutter. Sobald ich Mutter wurde, hatte ich im Sport nichts mehr zu suchen.“ In zwei Monaten erwartet Antje Harvey ihr zweites Kind. Es wird wieder eine Tochter sein.

Die Szene spielt in Herber City, einem kleinen Nest 75 km entfernt von Salt Lake City. Herber City würde unbekannt bleiben, wenn dort nicht in einem Jahr bei den Winterspielen die olympischen Wettbewerbe im Ski-Langlauf und im Biathlon entschieden würden. Für Antje Harvey wird es dann eine Begegnung mit der Vergangenheit geben, von der sie meint, dass sie abgeschlossen ist. Vor einem halben Jahr hat sie ihre deutsche Staatsbürgerschaft zurückgegeben. Auch die kleine Hazel ist eine Amerikanerin geworden. Dennoch wird zu Hause deutsch gesprochen, „es ist schön, eine eigene Sprache zu haben“.

Bisher hat Antje Harvey drei Leben gelebt. Zwei davon sind ganz spannend gewesen. In der DDR war der Lebensmittelpunkt der 1967 in Magdeburg geborenen Antje das thüringische Oberhof. Mutter Ilse und Vater Henner, zwei sehr erfolgreiche Leistungssportler, führten Tochter Antje an den Ski-Langlauf heran. Der Werdegang über die Kinder- und Jugendsportschule hätte nach DDR-Norm direkt in die Weltklasse geführt. Doch die Miserskys hatten etwas gegen diese Norm. 1984 wurde Antje „ausdelegiert“. Sie hatte sich nach Warnung ihres Vaters geweigert, Doping-Pillen zu schlucken. Henner Misersky bezahlte seine Gegnerschaft zum rücksichtslosen Leistungssport-System 1985 mit dem Verlust des Verbandstrainer-Postens.

Das zweite Leben der Antje Harvey begann mit dem Glücksfall der Wiedervereinigung. Wenige Monate vor dem Mauerfall noch in der zusammenbrechenden DDR als Biathletin reaktiviert, bildete sie im neuen Deutschland ihr Talent als Skijägerin aus und führte es zum Triumph: 1992 Goldmedaillen-Gewinnerin im neuen olympischen Wettbewerb, als Fahnenträgerin bei der Schlussfeier in Albertville Personifizierung der neu gewonnenen deutschen Einheit. Als die schwangere Antje Harvey sich 1995 vom Leistungssport zurückzog, standen noch zwei Silbermedaillen mit der Staffel auf der Habenseite, eine davon 1994 in Lillehammer errungen.

Wann das dritte Leben anfing, ist nicht so genau festzumachen. Es hängt 1992 mit dem Kennenlernen des amerikanischen Biathleten Ian Harvey zusammen. Im Mai 1993 war die Heirat, in Hazels Geburtsjahr 1996 entschied sich das Paar nach drei Jahren des Pendelns endgültig für die USA. „Die Weite der Landschaft, die Natur, die Berge, die hilfsbereiten, total netten Leute hier“ - Antje Harvey findet jede Menge Begründungen dafür, den richtigen Schritt getan zu haben. Die Generalvertretung ihres Mannes für skandinavische Wintersportartikel sorgt für die materielle Grundlage: „Wir wollen nicht reich werden, nur gut über die Runden kommen.“

Zum Leistungssport hat Antje Harvey großen Abstand genommen, er ist fast so groß wie die Entfernung zu Deutschland geworden ist. Sie findet, dass der Leistungssport dort „viel zu ernst genommen wird“ und kann nicht verstehen, dass „dieses kleine Land“ es darauf anlegt, zu den drei stärksten Sport-Nationen gehören zu wollen. Sie lebt in der Skepsis, dass trotz des gestorbenen Staatsdoping-Systems der DDR der Betrug im internationalen Sport eher noch zugenommen hat.

Dennoch freut sie sich auf die Winterspiele in der Nachbarschaft. Sie hat den deutschen Langläufern und Biathleten geholfen, fern dem Olympischen Dorf von Salt Lake City ein eigenes Quartier zu finden. Und sie hat NOK-Präsident Walther Tröger angeboten, im Vorfeld „Wege ebnen zu helfen“. Während der Winterspiele will sie, „wenn es mein Muttersein erlaubt“, einige ausgewählte Veranstaltungen besuchen. Biathlon wird bestimmt dabei sein. Ian, „dieser tolle Mann“, wie Antje Harvey ihn nennt, hat wieder ein bisschen zu trainieren angefangen. Im kommenden Winter will der 33-Jährige versuchen, sich zum zweiten Male nach 1992 für das US-Olympia-Team zu qualifizieren.

In einem Land, in dem kaum einer weiß, was Biathlon bedeutet, ist so etwas möglich. Auch wegen dieser unbegrenzten Möglichkeit hat sich Antje Harvey für Amerika entschieden.

(RPO Archiv)
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