Spanien schläfert ein "Tiki-Taka" als Valiumtablette

Donezk · Spanien befindet sich bei der EM 2012 auf dem besten Weg zur Titelverteidigung. Spielstil und Philosophie treiben die Gegner zur Verzweiflung - und langweilen die Fans. Die Kritik am "Tiki-Taka" wächst.

EM 2012, Spanien - Frankreich: Nachbericht
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Mitte der zweiten Halbzeit hatte das Publikum die Nase gestrichen voll. Mit Pfiffen und Buhrufen machte ein Großteil der Zuschauer in der Donbass Arena in Donezk seinem Unmut Luft. "Die Spanier wollten mit ihrer Spielweise die Franzosen und die Zuschauer einschläfern, das ist ihnen leider gelungen. Das war ein Unspiel mit viel Ballbesitz", nörgelte hinterher Arsene Wenger, Teammanager des FC Arsenal, ein Fußball-Ästhet und ein Lehrmeister des "One-Touch-Football".

Spanien gewann gegen Frankreich (2:0), aber die Zuschauer fühlten sich wie Verlierer. Sie hatten sich auf ein unterhaltsames Duell zweier Weltklasseteams gefreut. Stattdessen erlebten sie ein nahezu leidenschaftsloses und ermüdendes Ballgeschiebe des Titelverteidigers gegen seelenlose Franzosen. Der Erfolg gibt den Spaniern Recht, sie stehen im Halbfinale der EM gegen Portugal (Mittwoch, 20.45 Uhr/Live-Ticker). Der Nächste, der die Schlaftablette "Tiki-Taka" verabreicht bekommen soll, ist das personifizierte Aufputschmittel Cristiano Ronaldo.

"Tiki-Taka" ist die spanische Bezeichnung für Klick-Klack-Kugeln. Und der Begriff beschreibt den spanischen Stil, der vor nicht allzu langer Zeit noch als revolutionär und Nonplusultra des modernen Fußballs gefeiert wurde. Bei der EM hat "Tiki-Taka" eine einschläfernde Wirkung. Ein "Hallo-Wach" war dagegen der torlose Schlagabtausch im Viertelfinale am Sonntagabend zwischen Italien und England mit einer Verlängerung und einem Elfmeterschießen (4:2) als Zugabe.

Es gibt nach wie vor Menschen, die sind von den Spaniern beeindruckt. "Wenn man die Raumaufteilung sieht, dann ist das beeindruckend. Genauso, wie sie gegen den Ball arbeiten. Frankreich hat so gut wie keine Möglichkeit gehabt", sagte der deutsche Mannschaftskapitän Philipp Lahm anerkennend. Erfolgreich und effektiv, aber keineswegs attraktiv sind die Auftritte des Welt- und Europameisters aus Spanien, dessen Fußball-Philosophie auf schneller Balleroberung und viel Ballbesitz basiert, die Gegner zur Verzweiflung treibt und die Zuschauer zunehmend nervt.

"Ballbesitz und Spielkontrolle", betont Spaniens Vicente del Bosque, seien das Wichtigste. Pass nach hinten, Pass nach vorn, danach zweimal seitwärts und wieder nach hinten - aber nur selten steil in die Tiefe. Anders ausgedrückt: zu viele Ballkontakte, zu wenig Risiko, zu wenig Tempo, zu wenig Torszenen. Kurzum: zu wenig Attraktivität, zu wenig Flair und Fußball-Zauber. Lahm: "Also, das ist schon beeindruckend, wie sie arbeiten, gegen den Ball, wie sie den Gegner vom Tor weghalten, vom eigenen."

Dabei ergötzen sich die Fans am Spiel des FC Barcelona, der diesen Stil zur Perfektion entwickelt hat. Doch im Gegensatz zum Nationalteam dient dort das schnelle Passspiel um den Strafraum des Gegners, das oft an einen Angriff im Handball erinnert, primär dazu, den Offensivkünstlern wie Lionel Messi oder Cesc Fabregas die beste Position zum erfolgreichen Abschluss zu eröffnen. Del Bosque hingegen ließ die Furia Roja gegen Frankreich sogar ohne Stürmer mit sechs Mittelfeldspielern auflaufen. Die "Blauen" waren völlig überfordert.

"Spanien wird die Rivalen spielerisch ermüden", kündigte der ehemalige Nationaltrainer Luis Aragones 2008 schon vor dem Finale gegen Deutschland an - und gewann. Ein probates Gegenmittel gegen das spanische Narkotikum scheint noch immer nicht gefunden.

(sid)
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