Kolumne Das neue Spiel ist variabler

Düsseldorf · EM-Kolumnist Holger Gässler erklärt, auf welche Art Fußball sich die Zuschauer bei dieser EM freuen können. Die Offensivqualitäten vieler Mannschaften sind gestiegen, die individuelle Klasse der Spieler ebenfalls. Wer das mit Teamgeist vereint, hat beste Chancen auf den Titel.

 Unser Kolumnist erklärt, auf welche Taktik sich die Fans freuen dürfen.

Unser Kolumnist erklärt, auf welche Taktik sich die Fans freuen dürfen.

Foto: Grafik: RP

Ich habe mir in der Vorbereitung auf die EM unter anderem die Spiele Frankreich gegen Serbien und Holland gegen Nordirland live im Stadion angesehen. Obwohl die Gegner der beiden EM-Fahrer nicht ganz so gut waren — die Offensivqualitäten von Holland und Frankreich waren beeindruckend. Franck Ribéry oder Karim Benzema zum Beispiel waren bei Ballbesitz auf allen Positionen zu finden.

Und das ist das neue Spiel. Früher waren die Spieler auf ihre Positionen festgelegt. Heute sind die Offensivspieler variabel und wechseln oft die Positionen. Darauf kann sich eine Abwehr nur schwer einstellen. Bei den Franzosen wechseln sich Ribéry und Samir Nasri auf den Außenbahnen ab, die Mittelfeldspieler Florent Malouda und Yohan Cabaye gehen in die Spitze, oder Mittelstürmer Benzema geht auf die Außenbahn oder ins Mittelfeld.

Auch Holland und Spanien spielen so. Marco van Basten hat im "Kicker" gesagt: "Fußball wird immer mehr wie Handball." Und das stimmt. Zum Beispiel beim Champions-League-Finale, als Chelsea ein Mauerwerk um den eigenen Strafraum gebaut hat — da waren die Bayern gezwungen, so lange um den Strafraum zu spielen, bis sie eine Lücke finden konnten. Das ist vergleichbar mit Handball, wo die Mannschaft im Angriff um den Kreis herum spielt. Und ebenfalls wie beim Handball müssen bei Ballverlust alle Spieler schnell auf Defensive umschalten.

Einige Teams verteidigen aber nach Ballverlust sehr aktiv und versuchen, durch ein Gegenpressing sofort wieder in Ballbesitz zu gelangen. Gelingt das nicht, müssen sich alle Spieler an der Abwehrarbeit beteiligen, den Ball erobern und dann so schnell nach vorne spielen, dass der Gegner in der Defensive noch ungeordnet ist. Wer das als Mannschaft beherrscht, hat die besten Möglichkeiten. Der Angriffsfußball hat so ein hohes Niveau erreicht, dass die Teams mit elf Spielern verteidigen müssen. In der Defensive ist die Grundordnung wichtig, also eine gute Organisation der ganzen Mannschaft, ballorientiertes Verschieben und eine gute Tiefenstaffelung, um Passwege des Gegners zuzustellen und die Räume für das Kombinationsspiel einzuengen.

In der Offensive fallen heute weniger Tore nach Flanken, vielmehr sollen auch die Außenspieler gefährlich vor das Tor kommen. Wie bei Holland, wo Arjen Robben mit dem linken Fuß auf rechts spielt und Ibrahim Affelay mit dem rechten Fuß auf links: Beide sollen in die Mitte ziehen und torgefährlich sein.

Und da ist die individuelle Klasse entscheidend: Ribéry, der dynamisch in den Strafraum zieht oder Robin van Persie, der immer ein Tor erzielen kann oder Cristiano Ronaldo mit seinen Tempodribblings. Auch die Deutschen haben in Mesut Özil , Marco Reus, Manuel Neuer oder Miroslav Klose viel individuelle Klasse im Team. Es gibt bei der EM viele Spieler, die den Unterschied ausmachen können.

Bei all diesem offensiven Potenzial müsste man meinen, dass wir viele Tore bei der EM sehen werden, zumal einige Teams auch in der Defensive noch nicht stabil sind. Es wird aber auch Mannschaften geben, die ihr Heil in der Defensive suchen. Ich glaube aber nicht, dass sich so etwas wie mit Griechenland 2004 wiederholt, dass eine Mannschaft, wie die Ukraine oder Irland, einen Lauf hinlegt und den Titel holt. Ich glaube, dass sich einer der Favoriten durchsetzen wird, weil sie die individuelle Qualität haben und als Team funktionieren. Das sehe ich als großes Plus unserer Mannschaft, die beide Dinge vereint: mannschaftliche Geschlossenheit, die über Jahre gewachsen ist, und die hohe individuelle Qualität. Deswegen hat Deutschland sehr große Chancen auf den Titel.

(RP/seeg)
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