Reise durch Europa Wie ein Autist seinen Verein findet

Kassel · Jason will Fußballfan werden – seit sechs Jahren ist der autistische Junge mit seinem Vater auf der Suche. Eine ganz besondere Reise durch die Stadien Europas.

 Jason mit seinem Vater Mirco von Juterczenka auf den Stufen des Stadions am Millerntor (St. Pauli).

Jason mit seinem Vater Mirco von Juterczenka auf den Stufen des Stadions am Millerntor (St. Pauli).

Foto: Sabrina Nagel

Jason will Fußballfan werden — seit sechs Jahren ist der autistische Junge mit seinem Vater auf der Suche. Eine ganz besondere Reise durch die Stadien Europas.

Diese Reise hat einen Anfang gehabt, wird aber vermutlich nie ein Ende haben. Weil Dinge in der Welt von Jason niemals enden dürfen. In der Welt des Zwölfjährigen ist alles streng geordnet und hat einen festen Platz. Als er vier war, haben die Ärzte Autismus bei ihm diagnostiziert, Asperger-Syndrom, eine genetisch bedingte Entwicklungsstörung. Er ist nicht krank, sein Gehirn ist nur einfach etwas anders verdrahtet. "In meinem Gehirn", sagt Jason, "ist manchmal Krieg, es schießen da so viele Gedanken durcheinander." Es fällt ihm leicht, sich Detailwissen zu wissenschaftlichen Vorgängen in kürzester Zeit anzulesen, zu verstehen und zu erklären. Es ist ihm aber unmöglich, jemandem die Hand zu geben.

Oktober 2011. Mirco von Juterczenka, Jasons Papa, schenkt seinem Vater zum Geburtstag zwei Fußballtickets. Bayer Leverkusen gegen Valencia. Jason bekommt das mit und ist empört. "Ich möchte auch mit", sagt er. Um ihn herum verdutzte Blicke. Ein Fußballstadion ist ein Sammelbecken von Dingen, die er überhaupt nicht abkann. Es ist laut, eng, viele Menschen. Von Juterczenka überlegte eine Weile, ob er das wirklich probieren sollte, ob er das wirklich seinem Sohn antun wollte. Der ließ aber nicht locker und so saßen wenig später Großvater, Vater und Sohn zusammen in der Leverkusener Arena. "Der Fußball", sagt von Juterczenka, "der Fußball hat ihn natürlich nicht die Bohne interessiert. Ihn faszinierte das Drumherum. Die Farben, die Gesänge." Auf dem Heimweg sagte Jason diesen einen Satz, der das Leben der Familie nachhaltig prägen sollte: "Ich will auch Fan werden." Jason blickte ins Weite. Sein Vater kniete sich vor ihn. "Man wird nicht einfach so Fan, irgendwann findet man den richtigen Verein - und den unterstützt man dann." Kurze Stille. Jason sagt: "Dann müssen wir uns eben alle ansehen."

Seitdem touren die beiden kreuz und quer durch Europa. Der Vater hat das Groundhopping-Projekt "Der Wochenendrebell" getauft, weil Jason am Wochenende rebellisch seine Regeln bricht. Es gibt dazu auch einen bemerkenswerten Blog, mit dem er in diesem Jahr den Grimme Online Award in der Kategorie "Kultur und Unterhaltung" gewonnen hat. Von der Kreisklasse bis zur internationalen Bühne. Rund 65 Begegnungen sind so bislang zusammengekommen. Es gab am Anfang eine Vereinbarung zwischen ihnen: Alle Ziele müssen ausschließlich mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht werden. Das bedeutet oft lange Fahrten. Das bietet aber auch viele Möglichkeiten für den Vater, mehr über seinen Sohn zu erfahren.

Unter der Woche ist Mirco von Juterczenka nur selten zu Hause. Er wurde in Solingen geboren und wuchs im Düsseldorfer Umland auf. Er ist Manager in der Gastronomie für eine Fast-Food-Kette und betreut Kunden in Süddeutschland. "Die tägliche Arbeit, die ganzen Probleme, das alles hat meine Frau am Hals", sagt der 40-Jährige. "Dazu noch unsere kleine Tochter. Dagegen ist mein Einsatz keine große Sache." Der Tag von Jason muss genau durchgetaktet sein, sonst wird er unruhig, sonst funktioniert er einfach nicht. Die Zähne putzt er sich alleine, aber seine Mutter muss daneben stehen. Seine Klamotten müssen rausgelegt werden, weil er sich nicht entscheiden kann. Im Schulbus muss er immer auf demselben Platz sitzen, wenn der belegt ist, ist der Tag gelaufen. "In unserem Umfeld wissen natürlich alle Bescheid und unterstützen uns nach Kräften", erzählt von Juterczenka. "Im Leben läuft aber eben nicht immer alles nach Plan. Das sind dann die besonders schwierigen Herausforderungen für Jason."

Jason mag keine Nähe

Sie waren auf der Dortmunder Südtribüne und auf Schalke. Bei den Königsblauen hatten sie auch einen Stehplatz. Fans stimmten den Gesang an: "Steht auf, wenn ihr Schalker seid" — Jason war der einzige Mensch, der sich in diesem Moment hingesetzt hat. "Er nimmt die Dinge einfach wörtlich", erklärt von Juterczenka. "Er ist kein Schalker, also darf er sich auch nicht hinstellen. Das geht auch bei Sprichwörtern so. Warum sollte man die Kirche im Dorf lassen? Für ihn sind das große Fragen." Jason mag Nähe nicht, Teams, die vor dem Anpfiff beispielsweise einen Kreis bilden, um sich einzuschwören, scheiden für ihn per se aus.

Sie sind ins Erzgebirge nach Aue gefahren und zur Alten Försterei nach Berlin. Alle Ziele müssen etwas Außergewöhnliches bieten. Es geht nicht so sehr um große Namen, sondern um Geschichten. Jason will keinen Glamour, er will Fußball erleben. In Berlin zum Beispiel gibt es noch immer keine digitale Anzeigentafel, der Spielstand wird mit Tafeln angezeigt. Jason geht es nicht um die Schönheit des Spiels, es geht um Momente. Einmal haben sie sich ein Spiel des FC Bayern angesehen. Jason wurde immer unruhiger, ihn wühlte etwas auf. Es war ein tolles Spiel, rasantes Tempo, viele Tore. Jason interessierte das alles nicht. Plötzlich war er wieder zufrieden. Eine Auswechslung. In der Bayern-Abwehr standen nun nur noch Spieler mit der gleichen Schuhfarbe. Die Ordnung, so wie er sie sich wünscht, war wieder hergestellt.

Jason sagt, er habe Angst, einen Lieblingsverein zu finden, weil dann die Touren enden würden. Die Aussicht, sich künftig alle Partien eines Teams anzusehen, hat ihn bislang nicht überzeugen können. "Ich weiß nicht, ob Jason jemals eine Entscheidung treffen wird. Mir persönlich ist es ganz egal, welchen Klub er sich aussucht", sagt von Juterczenka. "Es wäre nur nach den ganzen Touren etwas seltsam, wenn am Ende der FC Bayern dabei herauskommen würde."

(gic)
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