Bayer Leverkusen Kießling: "Viele Chancen habe ich nicht vergeben"

Zell am See · Im Trainingslager von Bayer Leverkusen spricht Stürmer Stefan Kießling über Kritik vom Sohnemann, die Chancenverwertung und den Luxus eines Einzelzimmers.

Stefan Kießling – Franke, Torschützenkönig, verhinderter Nationalspieler
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Das ist Stefan Kießling

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Foto: dpa, hei fux

Herr Kießling, war die abgelaufene Saison eine gute Saison für Sie?

Kießling (lacht) So herum hab ich die Frage gar nicht erwartet. Meist werde ich gefragt, ob ich ein schweres Jahr hatte. Ein schweres Jahr kann letztlich aber auch ein gutes Jahr sein, wenn man an den Erfahrungen wächst.

Es gibt Statistiken, etwa, was die Zweikampfwerte angeht, die für Sie sprechen.

Kießling Auf so etwas wird bei Stürmern meist nicht geachtet. Ob die Saison gut oder schlecht war, darüber habe ich im Urlaub viel nachgedacht. Wissen Sie, in meinem Fall heißt es seit Jahren: Der Kießling ist immer gut für zehn bis 20 Tore. Ein Stürmer wird nun mal daran gemessen. Dass es zuletzt nicht geklappt hat, zweistellig zu treffen, ärgert mich aber wirklich, weil ich in den zurückliegenden neun Jahren immer zweistellig getroffen habe.

Zu welchem Schluss sind Sie letztlich gekommen?

Kießling Dass es trotz aller Kritik eine ordentliche Saison war. Wir hatten 49 Pflichtspiele, die ich alle gemacht habe. Natürlich schieße ich gerne Tore. Aber es ist doch falsch, allein darauf reduziert zu werden. Ich habe versucht, mich an das System von Roger Schmidt anzupassen. Meine Aufgabe war eine andere. Oft genug war ich in der Situation, dass ich den Ball am Mittelkreis bekommen und verteilt habe — aber eben nicht schnell genug vor dem Tor sein konnte, um den Ball reinzumachen. Viele Chancen habe ich nicht vergeben, weil ich sie schlicht nicht bekommen habe. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, sind neun Treffer nicht so schlecht.

Trifft Sie Kritik noch?

Kießling Wenn sie angebracht ist, nicht. Wenn ich aber dafür kritisiert werde, dass ich keine Tore schieße, ärgert mich das.

Das Toreschießen oder vielmehr die Chancenverwertung ist im Allgemeinen verbesserungswürdig.

Kießling Definitiv, das wissen wir auch. Wir hatten von allen Bundesligisten mit die meisten Torchancen, haben aber zu wenig daraus gemacht. Sei es, dass uns das Auge für den Mitspieler fehlte oder wir in gewissen Situationen die falsche Entscheidung getroffen haben. In diesen Punkten ist es wichtig, als Team den nächsten Schritt zu machen.

Was sagt ihr Sohn, wenn Sie ohne Tor nach Hause kommen?

Kießling Er ist mit seinen sieben Jahren schon ein echter Kritiker. Ich wundere mich manchmal, was er bereits alles aufnimmt, und was ich zu hören bekomme. Das fasziniert mich jedes Mal. Es ist für mich als Vater aber schön mit anzusehen, was er für ein Interesse entwickelt.

Sie gehen mit Leverkusen in Ihre zehnte Saison, bestreiten das zehnte Sommertrainingslager. Wie motivieren Sie sich jedes Mal aufs Neue?

Kießling Fußballspielen ist meine Leidenschaft. Dass ich diese zu meinem Beruf machen konnte, ist wunderbar. Ich weiß: Auf diesem Niveau wird das irgendwann vorbei sein. So lange ich gesund bin und den Spaß nicht verliere, genieße ich das. Die Quälerei gehört nun mal dazu.

Sie haben ja das Privileg eines Einzelzimmers, um sich zu erholen.

Kießling (lacht) Früher musste man sich das noch verdienen. Anfangs habe ich mir mit Simon Rolfes ein Zimmer geteilt. Seit wir Väter sind, wohnte jeder alleine. Ich genieße die Ruhe: Sei es, um mal ungestört zu schlafen, mit der Familie zu telefonieren oder einfach mal ein Buch zu lesen.

Was liest Stefan Kießling?

Kießling Am liebsten spannende Thriller. Ich bin nicht der Typ für Liebesgeschichten. Das aktuelle Buch heißt "Ausgelöscht" von Cody McFadyen.

Müssen Sie sich mit jetzt 31 Jahren mehr motivieren als mit 20?

Kießling Bei uns Älteren heißt es gerne: Manchmal ist weniger Training mehr. Genau genommen muss ich aber mehr machen, um an den Jungen dran zu bleiben. Die sind mit ihren 17, 18 Jahren weiter, als wir es waren. Sei es in punkto Kraft oder Schnelligkeit. Ich mache hier freiwillig Sprints, um dranzubleiben.

Hat sich Simon Rolfes schon gemeldet?

Kießling Natürlich. Er hat zwar jetzt ein neues Arbeitsfeld, aber er denkt an uns und weiß nur zu gut, was wir hier gerade machen.

Mit Rolfes hat ein langjähriger Teamkollege und Freund seine Karriere beendet. Rückt das Karriereende in solch einem Moment auch ins eigene Bewusstsein?

Kießling Es wird einem klar: Das eigene Karriereende rückt näher. Ich habe noch zwei Jahre Vertrag, danach bin ich 33, so alt wie Simon jetzt. Das ist aber kein Alter, in dem man gehen muss. Klar kommt man irgendwann an den Punkt und überlegt: Wie gehts weiter? Aber so weit bin ich noch nicht. Schauen wir, wie die Saison verläuft. Vielleicht sagt der Verein: Kies, wir verlängern nochmal.

Wäre das eine Option?

Kießling Wenn ich fit bin und Lust auf Fußball habe, natürlich.

Ist Bayer 04 nach so vielen Jahren für Sie mehr als ein Verein?

Kießling Definitiv. Ich identifiziere mich mit dem Klub. Ich kenne fast jeden Mitarbeiter. Wenn ich sage, dass Bayer 04 mein zweites Zuhause geworden ist, ist das nicht gelogen.

Leverkusen hat bisher nur junge Spieler unter 25 Jahren verpflichtet. Hätten Sie sich nach dem Abgang von Rolfes, Gonzalo Castro, Stefan Reinartz und Emir Spahic noch einen erfahrenen Mann im Team gewünscht?

Kießling Ich habe mit Simon, Gonzo und Stefan zusammengespielt, so lange ich in Leverkusen bin. Dass die plötzlich alle auf einmal weg sind, ist schon hart. Menschlich, aber auch aus sportlicher Sicht. Wenn ich daran denke, was auch Sami Hyypiä als Spieler für eine Wahnsinns-Erfahrung ins Team hineingetragen hat, oder auch Emir... Das hat uns schon geholfen. Aber es ist nicht so, dass wir jetzt zu wenig Erfahrung hätten. Das Alter ist ohnehin kein Indiz dafür. Lars Bender ist 26 Jahre alt, Ömer Toprak 25, beide haben aber enorm viele Spiele auf dem Buckel.

Hat sich der Klub denn gut verstärkt?

Kießling Ich finde schon. Natürlich haben wir viel Qualität, Erfahrung und Charakter verloren, aber die Neuen, die bisher da sind, werden uns weiterhelfen. Der Verein hat ja signalisiert, dass noch der eine oder andere dazukommt. Wenn ein Trainer die Spieler soweit bringt, dass sie seine Spielweise annehmen und als Mannschaft zusammenstehen, ist es egal wie alt sie sind, denn dann helfen sie weiter. Das ist ein Prozess, der wachsen muss. Wenn ich sehe, mit welcher Intensität wir trainieren, sind wir unabhängig von irgendwelchen Testspielergebnissen auf einem gutem Weg. Aber es steht und fällt natürlich damit, ob wir, wenn es darauf ankommt, erfolgreich sind.

Sie sind mit 31 Jahren derzeit der älteste im Bayer-Team. Es ist das jüngste seit Jahren. Fühlen Sie sich mehr in der Verantwortung?

Kießling Nicht mehr als vorher auch. Es wird in dieser jungen Mannschaft aber wichtig sein, diese Verantwortung noch mehr auf dem Feld zu übernehmen. Ich glaube schon, dass ich in eine solche Rolle schlüpfen kann.

Dem Alter zufolge sind Sie der nächste Bayer-Kapitän. Würden Sie's machen?

Kießling Wenn der Trainer es so bestimmt, würde ich es nicht ablehnen. Aber ich brauche diese Kapitänsbinde nicht unbedingt. Für mich ist es wichtig, dass ich spiele. Ich bin auch ohne Binde jemand, der seinen Mund aufmacht und versucht, jungen Spielern zu helfen.

Die erste wichtige Hürde für diese junge Mannschaft ist die Champions-League-Qualifikation.

Kießling Die hat oberste Priorität. Es kann viel kaputt gehen, wenn man dieses Ziel nicht erreicht. Das letzte Jahr hat uns gezeigt, dass wir aus diesen Spielen enorm viel Selbstbewusstsein und Stärke mit in die Saison nehmen können. Die ersten drei Wochen mit dem Pokal, zwei Quali-Spielen und dem Ligastart können prägend für den Saisonverlauf sein.

Wie finden Sie, dass Arturo Vidal nach München geht?

Kießling Er ist ein unglaublich guter Fußballer mit enormer Präsenz auf dem Platz, der nie aufgibt. Er war bei uns schon eine Wucht, in Italien hat er sich weiterentwickelt. Für Bayern in jeder Hinsicht eine Verstärkung.

Stefanie Sandmeier stellte die Fragen.

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