Bayer Leverkusen "Viele Vereine sind gnadenlos an uns vorbeigezogen"

Leverkusen · Der Nachwuchs-Cheftrainer spricht über Bayers Zugzwang im Wettstreit der Profiklubs um Talente, über Leverkusens Vorteil in diesem Konkurrenzkampf, über das größte Talentmerkmal von Julian Brandt, und warum die U 23 als Konstrukt zunehmend einem Phantasialand glich.

Bilder aus der Karriere von Sascha Lewandowski
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Foto: dpa, pse fdt

Muss Bayer 04 sich im Nachwuchsbereich neu aufstellen, damit man eine führende Rolle behält oder um eine ehemals führende Rolle wiedergewinnen zu können?

Lewandowski Das hängt davon ab, wie man "führende Rolle" definiert. Wir mussten auf jeden Fall etwas machen. Das ist unstrittig. Es geht ja schon mit der Infrastruktur los. Als Bayer im Jahr 2000 das Nachwuchsleistungszentrum hier am Kurtekotten gebaut hat, war der Verein ja schon ein ziemlicher Vorreiter in dieser Hinsicht. Aber es ist eben 14 Jahre her, und an den Gegebenheiten hat sich eben auch nichts verändert. In den vergangenen Jahren sind halt viele Vereine gnadenlos an uns vorbeigezogen. Und da reden wir nicht von Bayern München. Ich muss auch nicht einmal anführen, was RB Leipzig gerade macht. Gladbach hat beispielsweise ein hochmodernes Nachwuchszentrum gebaut. Viele gute, aber nicht Top-Bundesligisten machen etwas. Und wir haben gemerkt, dass wir von der Infrastruktur her aus allen Nähten platzen.

Wie will man dieses Problem beheben.

Lewandowski Das Thema Infrastruktur verfolgen wir ja schon seit drei, vier Jahren. Eigentlich müssten wir den Kurtekotten erweitern. Es gab ja auch Bestrebungen, aber das hat letztlich halt nicht funktioniert. So kam dann irgendwann der Gedanke auf, ob wir nicht auch mit der vorhandenen Infrastruktur und ohne, dass wir zehn Millionen Euro in die Hand nehmen, unsere Ressourcen besser nutzen können.

Beispielsweise, indem die U 19 zur BayArena umzieht.

Lewandowski Richtig. Dadurch, dass wir drüben am Stadion schon mal die U 19 ansiedeln, entschärfen wir die Situation am Leistungszentrum ein bisschen und haben außerdem die wichtigste Nachwuchsmannschaft dort, wo sie hingehört, nämlich nah bei den Profis.

An der BayArena wird ja auch Platz frei durch die Abmeldung der U 23. Wann ist man zu der Überzeugung gelangt, dass dieses Team eine Sackgasse für Talente ist?

Lewandowski Wir sind einfach zu dem Schluss gekommen, dass wir sagen: Wir können es schaffen, es mit derselben Infrastruktur und demselben finanziellen Aufwand besser hinzukriegen, wenn wir alles effektiver nutzen. Da ist man dann natürlich schnell beim Thema U 23, weil die räumlich am nächsten an den Profis dran war, aber eigentlich kaum mehr über Spieler verfügte, die für die Profimannschaft interessant waren. Das wäre in der nächsten Saison ja sogar noch krasser geworden.

Warum?

Lewandowski Weil nur noch vier fünf Spieler einen Vertrag hatten. Wir hätten also eine komplett neue Mannschaft holen müssen. Und für wen? Für einen Maximilian Wagener und eine Oliver Schnitzler, die vielleicht mal für die Profis interessant werden könnten? Dafür fährst du nochmal einen Jahresetat, der deutlich höher ist als der vom kompletten Nachwuchsbereich? Das wäre ja quasi ein Luxus, den man sich gönnt, aber es kann nicht der Weg sein, wenn man Geld und Ressourcen effektiv einsetzen will.

Wie aber will man die Lücke zwischen U 19-Niveau und Bundesliga schließen?

Lewandowski Wir müssen einer neuen Entwicklung Rechnung tragen. Vor zehn Jahren spielte ja kaum ein 18-Jähriger in der Bundesliga. Heute ist das anders. Spieler werden immer früher immer besser ausgebildet. Die fußballerisch Entwicklung verlagert sich nach vorn. Also sagen wir: Wir investieren mehr in die Ausbildung der 13-, 14-, 15-Jährigen, weniger in die der 22-Jährigen.

Woran bemisst sich letztlich eine erfolgreiche Jugendarbeit? An Spielern, die es bis zu den Profis schaffen oder an Titelgewinnen im Nachwuchsbereich?

Lewandowski Ganz klar am ersten. Wobei wir in Deutschland eine Zeit hinter uns haben, in der Titelgewinne in der Jugend fast schon verpönt waren, weil es hieß, es gehe ja um die Entwicklung von Spielern und nicht um den Erfolg von Mannschaften. Uns geht es heute auch darum, den Jungs die Lust auf Erfolg zu vermitteln. Das ist ganz wichtig. Ein Beispiel: Eines der größten Talentmerkmale von Julian Brandt ist einfach sein unglaubliches Selbstbewusstsein. Was uns in diesem Bereich sehr geholfen hat, ist die Einbeziehung von Sportpsychologen.

Wie groß soll künftig der Anteil eigener Nachwuchsspieler am Profikader sein?

Lewandowski Zunächst einmal werden wir auch künftig immer wieder merken, dass es bei einem Top-Klub wie uns eben schwieriger ist, einen Spieler aus dem Nachwuchs bei den Profis zu integrieren. Aber auf Strecke wollen wir diesen Anteil natürlich erhöhen, deutlich erhöhen. Wie lange diese Strecke dauert, weiß ich selbst noch nicht. Unser Ziel ist es natürlich, so schnell wie möglich sichtbare Erfolge vorzuweisen. Wir leiern gerade vieles an, von dem ich überzeugt bin, das sich das langfristig auswirkt.

Und was passiert künftig mit den A-Jugendlichen, für die es für die Bayer-Profis dann letztlich doch nicht reicht?

Lewandowski Wenn die Frage kommt: Wie geht es denn weiter nach der A-Jugend?, dann geht es um das Stichwort "individuelle Lösungen". Wir haben mit Dirk Dreher jemanden, der ab 1. Juli nur dafür zuständig sein wird, Kontakt zu den Spielern zu halten, für die es nach der U 19 nicht direkt bei Bayer weitergeht und für sie individuelle Lösungen zu finden. Wir haben ehrlicherweise mit der U 23 im Prinzip ja auch eine Art Phantasialand aufrechterhalten, indem wir 22-, 23-Jährigen quasi vorgegaukelt haben, dass sie auf diesem Niveau noch 15 Jahre vom Fußball leben können. Das ist vom sozialen Aspekt her auch nicht korrekt. Eins ist aber auch klar: Die richtig guten A-Jugend-Spieler, die haben hier nie nach der U 23 gefragt. Nicht einer.

Also wird Bayer künftig noch mehr auf Leihgeschäfte setzen. Sind Kooperationen mit anderen Vereinen angedacht?

Lewandowski Man muss das nicht in Stein meißeln. Wir haben logischerweise einige Vereine, die uns von ihrer Philosophie, von ihrer Herangehensweise, von ihrer Art, wie sie arbeiten, ein bisschen näher sind als andere. Man sieht ja beispielsweise, dass wir öfter zu Greuther Fürth ausleihen als zu anderen Vereinen.

Warum soll ein Talent in jungen Jahren zu Bayer wechseln und nicht zur Konkurrenz?

Lewandowski Klar, das ist ein ewiger Wettstreit, und der spielt sich schon seit Jahren auf sehr, sehr hohem Niveau ab, weil auch alle Konkurrenten begriffen haben, wie wichtig gute Nachwuchsarbeit ist und dementsprechend auch investieren. Ich denke, wir haben aufgrund unserer Mitarbeiter immer noch einen kleinen Vorsprung. Aber darauf dürfen wir uns keine fünf Minuten ausruhen.

Was zeichnet die Mitarbeiter in Bayers Nachwuchsbereich aus?

Lewandowski Wir machen es halt mit unheimlich viel Kontinuität, mit unheimlich viel Erfahrung, mit viel Qualität. Und wir versuchen, zu jedem unserer Spieler eine spezielle Bindung aufzubauen, egal, ob es für den denjenigen mal hoch hinaus geht, oder ob man merkt, dass es nach der U 15 wohl vorbei ist. Genau das haben die Mitarbeiter hier am Kurtekotten immer hinbekommen. Davor habe ich einen Riesen-Respekt. Man hört von Spielern eigentlich nie ein böses Wort, auch im Nachhinein nicht. Das ist ungewöhnlich.

Werden Ton und Sitten auf dem Jugend-Transfermarkt rauer?

Lewandowski Wir versuchen auch hier, ein vernünftiges Miteinander vorzuleben, allerdings nicht mit missionarischem Eifer. Es geht schon darum, für Bayer Leverkusen das Beste herauszuholen. Ich hoffe, dass der Umgang vernünftig bleibt. Seit gut zwei Jahren sieht man allerdings eine Tendenz, dass es kippen kann. Das wird eher noch stärker durch neue Konkurrenten wie Leipzig.

Stichwort Leipzig. Wird das dortige Projekt noch zu sehr unterschätzt?

Lewandowski Ich weiß nicht, ob in der Szene jemand Leipzig noch unterschätzt. Ich tue es jedenfalls nicht. Ich weiß, was dort gerade passiert, im Nachwuchsbereich weiß ich es sogar ziemlich genau.

Läuft Bayer am Ende nicht Gefahr, ins Hintertreffen zu geraten, wenn man selbst auf Soft Skills Wert legt, während andere Vereine immer brutaler auf dem Markt agieren?

Lewandowski Die Soft Skills müssen auch weiterhin unsere Stärke bleiben. Weil wir einfach davon überzeugt sind, dass ein Spieler, der sich wohlfühlt, auch bessere Leistung bringt. Dass wir hier den sozialen Auftrag vielleicht nochmal einen Tick ernster nehmen, ist Teil unserer Stärke. Das Pfund wollen wir nicht verlieren.

STEFAN KLÜTTERMANN FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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