Dortmunds Wunder von Glasgow "So war dat eben"

Glasgow/Dortmund · 1966 gewinnt Borussia Dortmund als erste deutsche Mannschaft einen Europapokal. In Glasgow bezwingt der BVB den großen Favoriten FC Liverpool im Cupsieger-Wettbewerb mit 2:1. Die Dortmunder nennen es "Wunder von Glasgow".

 Mannschaftskapitän Wolfgang Paul reckt den Pokal in die Höhe.

Mannschaftskapitän Wolfgang Paul reckt den Pokal in die Höhe.

Foto: Imago

In der Erinnerung ist es eine graue Zeit. Aus den noch längst nicht überall verbreiteten Fernsehern flimmerten körnige Schwarz-Weiß-Bilder in die Wohnzimmer. Die Bundesliga war gerade drei Jahre alt, und Borussia Dortmund stand im Finale des Europapokals der Pokalsieger. 1966 war das, heute vor genau 50 Jahren.

Die Fernsehbilder zeigten einen allenfalls zu einem Drittel gefüllten Hampden Park in Glasgow. In das damals größte Stadion von Europa passten weit über 120.000 Zuschauer, rund 40.000 erlebten ein vor allem in Deutschland unvergessenes Endspiel zwischen dem krassen Außenseiter Dortmund und dem großen FC Liverpool.

Es ist die schöne alte Geschichte von David und Goliath, die sich auf dem durchweichten Rasen in Schottland wiederholt. Nicht der Favorit Liverpool, dessen Trainer Bill Shankly seit Tagen über die Unschlagbarkeit seiner Mannschaft geredet hatte, gewann diese Begegnung, sondern der vergleichsweise kleine Klub aus Deutschland. Der BVB war damit der erste deutsche Titelträger in einem europäischen Wettbewerb. So etwas befördert selbstverständlich die Legendenbildung.

Im Gedächtnis der älteren Fußballfans ist deshalb eine geradezu heroische Abwehrschlacht, die der BVB den selbstbewusst nach vorn spielenden Briten lieferte. Dortmund stemmte sich bis weit in die zweite Halbzeit gegen die Übermacht der Engländer, und es schien nur eine Frage der Zeit, wann Liverpool seine Überlegenheit endlich in Toren ausdrücken würde. Doch der erste Treffer fiel auf der anderen Seite. Sigi Held, dessen Stern in diesem Jahr auch in Europa für jeden sichtbar aufging, lief der Liverpooler Abwehr davon und brachte den Underdog in Führung. In deutschen Wohnzimmern fielen erste Flaschen vom Nierentisch. Der Favorit glich allerdings fast postwendend aus, und er begab sich wieder auf den Weg, seiner Rolle nun endgültig gerecht zu werden. Dortmund aber rettete sich in die Verlängerung.

Dort gelang es dem BVB, die Begegnung ausgeglichener zu gestalten. In der Abwehr räumte Wolfgang Paul, den Deutschlands Fußballfans besser als "Stopper" Paul kannten, gnadenlos ab. Er stopfte die Löcher in der Defensivreihe, köpfte die Flanken der Engländer aus dem Strafraum. Und wenn er mal nicht zur Stelle war, gab es den grandios haltenden Torwart Hans Tilkowski, der später in diesem Jahr, im Sommer, ein großes WM-Turnier spielte, bei dem die Deutschen überraschend Zweiter wurden.

An dieser Abwehr biss sich der Favorit zunehmend die Zähne aus. Weil auch ihm langsam die Luft ausging, schließlich wurde in den 1960er Jahren längst nicht so professionell trainiert (und gelebt) wie heute, kam die Borussia zu ihrer Gelegenheit, das Spiel zu entscheiden. Wieder war Held maßgeblich beteiligt. Seinen Sololauf bremste Torwart Tommy Lawrence noch, aber der abgewehrte Ball landete gut 30 Meter vom Tor entfernt vor den Füßen von Reinhard Libuda. Der war an guten Tagen ein derart genialer Dribbler, dass ihn seine Anhänger mit dem legendären Engländer Matthews verglichen und "Stan" riefen. Stan hatte in diesem Finale einen schwarzen Tag gehabt - bis zu diesem Moment in der 107. Minute. Er schoss den Ball in einem weiten Heber Richtung Liverpool-Tor. Er traf die Latte, von dort aber prallte der Ball gegen die Brust des englischen Verteidigers Ron Yeats ins Netz. 2:1 - die Sensation war perfekt. Und weil den Dortmundern kein Superlativ zu groß war, hatten sie ihr "Wunder von Glasgow".

Ähnlich wie das eigentliche Fußball-Wunder der Deutschen, der WM-Triumph 1954 in Bern gegen die Ungarn, wurde es keine Party, die auch nur entfernt vergleichbar wäre mit dem, was heute jeder Viertligist beim Aufstieg veranstaltet. Die abgekämpften Herren ließen ihren Kapitän Paul hochleben und fuhren ins Hotel. "Da gab es eine Flasche Bier, vielleicht auch zwei. Mehr nicht, denn nicht einmal unser Vorstand hatte uns den Sieg zugetraut", sagte Tilkowski neulich, "so war dat eben."

(pet)
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