Analyse zu Borussia Dortmund Jugendinternat statt Bayern-Verfolger

Dortmund · Bei Borussia Dortmund gibt es derzeit viele Unruheherde. Sportlich ist vor dem Spiel immer noch Sand im Getriebe, zwischen Thomas Tuchel und der Klubführung knirscht es gehörig und auch die Kaderzusammenstellung scheint dem Trainer nicht komplett zu gefallen.

Thomas Tuchel im Portät: Ex-Trainer von BVB, Chelsea und Paris Saint-Germain
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Das ist Thomas Tuchel

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Foto: AP/Andy Rain

Thomas Tuchel blickte auf den Statistik-Bogen, und er traf eine Feststellung. "Wir haben das Gefühl, dass wir ein paar Punkte zu wenig haben", sagte Borussia Dortmunds Trainer nach dem 1:1 in Mainz. So richtig überraschend war das nicht, denn seit dem 18. Spieltag liegt der einst erklärte Bayern-Jäger elf Punkte hinter dem Senkrechtstarter RB Leipzig. Von Rang zwei, den die Sachsen belegen, ist deshalb in Westfalen längst keine Rede mehr. "Mein ganz persönlicher Ehrgeiz ist es, unter den ersten drei zu landen", erklärte Tuchel.

Das wäre gerade noch innerhalb der Zielvereinbarung, die ihm die BVB-Klubspitze öffentlich verschrieben hat. "Ich erwarte nicht mehr und nicht weniger von allen Beteiligten, als dass wir uns für die Champions League qualifizieren", sagte Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke neulich dem "Stern".

Tuchel muss das hinbekommen, obwohl er im Sommer drei Spieler von internationaler Klasse verloren hat. Henrikh Mkhitaryan, Mats Hummels und Ilkay Gündogan gingen von Bord, obwohl Watzke (diesmal der "Bild") vor einem Jahr versichert hatte: "Dass uns gleich drei Mann dieses Kalibers im Sommer von der Fahne gehen, ist ausgeschlossen." Tuchel, der nach seinem Sabbatjahr beim BVB angeheuert hatte, um auf Sicht ein Topteam in der Nähe des Bayern-Niveaus entwickeln zu dürfen, musste nun wie in seinem ersten Fußballtrainer-Leben ein Nachwuchs-Internat befehligen.

Das entspricht ganz dem, was Watzke und Sportdirektor Michael Zorc als "Philosophie des Vereins" verkaufen würden. Die Dortmunder haben festgestellt, dass sie mit den Branchengrößen auf dem Kontinent weder im Umsatz noch bei den Personalkosten wetteifern können. Deshalb fischen sie der Konkurrenz seit Jahren mit großem Erfolg in ganz Europa die Talente weg. Sie gehen dabei mit sehr ordentlichen Beträgen an den Start. Rund zehn Millionen Euro Ablösesumme zahlten sie beispielsweise im Winter für den 17-jährigen Schweden Alexander Isak. Er verstärkt die stattliche Teenager-Fraktion beim BVB. Und es ist ein spannendes Experiment, das sie in Dortmund veranstalten. Ein hoher Ertrag der Investition ist sportlich und wirtschaftlich zu erwarten. Jeder Einzelne aus der Talente-Sammlung wird bald noch besser werden. Dadurch wird der Marktwert steigen und gleichzeitig die Klasse der Mannschaft.

Für einen Angriff auf die Spitze aber reicht das natürlich nicht — siehe "die paar Punkte, die uns fehlen", wie Tuchel feststellte. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Trainer sich sein berufliches Fortkommen in Dortmund anders vorgestellt hat. Und es erfüllt ihn sicher nicht mit ungeteilter Begeisterung, dass ihm die Talente nach eingehender Begutachtung durch Chefscout Sven Mislintat zuwachsen. Ausgerechnet zwischen den beiden Sachverständigen Mislintat und Tuchel herrscht nämlich alles andere als großes Vertrauen. Der Chefscout meidet seit längerer Zeit das Trainingszentrum, und die Dortmunder Medien rätseln, ob Tuchel sich Besuche verbeten oder die Vereinsführung Mislintat davon abgeraten hat. Die Chemie zwischen den beiden, darin sind sich alle einig, stimmt nicht.

Spekuliert wird auch über Störungen im Verhältnis Tuchel-Klubspitze. Nährboden erhalten solche Spekulationen durch Watzkes geschäftsmäßige Erklärung, dass Verein und Trainer vor der Besiegelung einer längeren Zusammenarbeit "erst noch ein Gefühl entwickeln müssen, ob das für beide Seiten über die drei Vertragsjahre hinaus Sinn ergibt". Gespräche über eine Verlängerung sind jedenfalls verschoben — "auf Tuchels Wunsch", wie Watzke betonte.

Der Trainer wiederum vermutet böse Mächte am Werk. "Über uns wird sehr unruhig berichtet", sagte er in Mainz, "aber wo es wichtig ist, im Zentrum der Unruhe, ist es im Moment sehr ruhig." Zu ruhig vielleicht.

(pet)
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