Borussia Mönchengladbach Die Saison der 100 Wahrheiten

Mönchengladbach · Konstanz und Geradlinigkeit sind der Mannschaft zwischendurch verlorengegangen. Doch das Fundament ist nach wie vor stabil.

 Der Kapitän springt voran: Lars Stindl war Borussias Topscorer mit 18 Toren und zwölf Vorlagen. Hier bejubelt er einen Treffer in Leverkusen.

Der Kapitän springt voran: Lars Stindl war Borussias Topscorer mit 18 Toren und zwölf Vorlagen. Hier bejubelt er einen Treffer in Leverkusen.

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Topspieler Eigentlich hätte es zur Saison von Lars Stindl gepasst, wenn Borussia auf den letzten Drücker noch Europa erreicht hätte. Und es hätte gepasst, wenn der 28-Jährige dabei das entscheidende Tor gemacht hätte. Denn es war die Saison des Lars Stindl. André Schubert machte ihn zum Kapitän, er traf in der Bundesliga so oft wie nie zuvor in seiner Karriere, zu den elf Treffern kamen sieben Vorlagen.

Einer aus der Teenager-Fraktion: Laszlo Bénes steht für Borussias Weg der Jugend.

Einer aus der Teenager-Fraktion: Laszlo Bénes steht für Borussias Weg der Jugend.

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In der Liga, aber auch im Europapokal und im DFB-Pokal machte er vor allem wichtige Tore: in Glasgow, in Leverkusen, in Florenz, in Hamburg, in Köln, in Mainz. Schließlich setzte er ein Zeichen, als er seinen Vertrag verlängerte. Am selben Tag wurde Stindl zum ersten Mal in die deutsche A-Nationalmannschaft berufen, bald wird er Borussias 39. Nationalspieler sein. "Ich habe mich noch mal entwickelt", sagte Stindl "nicht nur als Fußballer, sondern auch als Mensch". Stindl ist zum echten Chef geworden.

Trainer André Schubert startete stark: Zehn Punkte in der Liga, die Champions League erreicht, im Pokal weiter - drei von drei Aufgaben erfüllt. Im zweiten Drittel der Hinrunde wurde dann im Pokal und international ein Haken dran gemacht, in der Liga kam die Torflaute, die Punkte blieben aus. Und schließlich: Der Absturz im Dezember, als nichts mehr ging.

Aus Flexibilität wurde Verwirrung, Schubert musste gehen, Dieter Hecking kam. Er stabilisierte das Team mit einem klaren System und einer fixen Achse. Borussia begann zu punkten in der Liga, kam ins Halbfinale des Pokals und ins Achtelfinale der Europa League. Was fehlte, war jeweils der letzte Schritt, da konnte Hecking das Feuer nicht mehr richtig zum Lodern bringen. Trotzdem: Nur 2015 holte Borussia in den vergangenen 24 Jahren mehr Rückrundenpunkte.

In der neuen Saison könnte Hecking sein Team durch Systemvariationen flexibler machen. Zudem muss er die Seinen lehren, Big Points zu machen. Denn das, was nun verpasst wurde, ärgert Hecking sehr.

Torproduktion 45 Tore haben die Borussen in dieser Saison erzielt, das ist wie in der realen Tabelle Platz neun - Mittelmaß. 411 Torschüsse benötigten die Borussen für die 45 Treffer, das sind 9,1 Versuche pro Tor (in der Vorsaison waren es 6,8).

Es fehlte letztlich die Effektivität, um besser dazustehen, auch im Pokal gegen Frankfurt und in der Europa League gegen Schalke. Personifiziert wird dieser Makel durch Jonas Hofmann. 25 Schüsse gab er in der Liga ab, schoss aber kein Tor, allein in den letzten drei Spielen hätte er die Geschichte der Saison umschreiben können. Bei Hofmann ist Potenzial für deutlich mehr, auch bei den Cheftorjägern Stindl (elf), Raffael (sieben) und Thorgan Hazard (sechs).

Letztere hätten eine bessere Ausbeute, wären sie nicht so lange verletzt gewesen. Josip Drmic ist verletzt, wann und ob er wieder fit wird, ist fraglich. Und André Hahn, bei Bremen und Berlin im Gespräch, ist ein Wechsel-Kandidat. Was Borussia braucht, ist ein verlässlicher Knipser in der Hinterhand. Der wird offenbar gesucht: Stuttgarts Simon Terodde (29) und der Kanadier Cyle Larin, beide Typ Strafraumstürmer, sind im Gespräch.

Abwehr In den vier Spielzeiten, in denen sich Borussia zuletzt für den Europapokal qualifizierte, hatte sie eine Tordifferenz zwischen +16 und +27. 2011/2012 und 2014/2015 stellte Gladbach jeweils die zweitbeste Defensive, 2015/2016 dann die drittbeste Offensive, und 2013/2014 stimmte die Torbilanz auf beiden Seiten des Doppelpunkts. 2016/2017 war dagegen konsequent mittelmäßig, obwohl Torwart Yann Sommer in der Rückrunde zu alter Stärke zurückfand und Borussia das zweikampfstärkste Innenverteidiger-Duo der Liga stellte.

Wie in so vielen Belangen stellt die Statistik Gladbach ein deutlich besseres Zeugnis aus als die Tabelle. Jannik Vestergaard bekommt ab August einen neuen Partner. Die scheinbar biedere Art des Verteidigens, die den eigenen Strafraum zum strikten Sperrgebiet für den Gegner erklärt, hat Borussia immer gutgetan. Martin Stranzl wäre stolz. Diese "Konsequenz", die Hecking hinten wie vorne vermisste, muss wieder der Maßstab werden.

Verletzungspech Es ist gar nicht so einfach, Verletzungspech in objektiv bewertbare Zahlen zu fassen. Die reine Zahl der Ausfalltage wertet Pausen an einem Trainingstag in der Länderspielpause genauso wie ein verpasstes Spiel. Und die Zahl der verpassten Spiele berücksichtigt nicht, ob ein Stammspieler fehlte oder ein Ergänzungsspieler. Doch auch ohne Gewichtung ist die absolute Zahl der Ausfälle bedrückend: In 51 Pflichtspielen musste Borussia auf 310 Spieler verzichten, auf sechs im Schnitt, wovon mehr als vier Ambitionen auf einen Stammplatz hatten.

Zum Vergleich: In der erfolgreichen Saison 2014/15 gab es in 48 Spielen nur 72 Ausfälle. Max Eberl hat angekündigt, dass das Thema bei der Analyse der Saison auf den Tisch kommt. Fraglich ist, welche belastbaren Erkenntnisse öffentlich werden - und welche es überhaupt geben kann, die hinausgehen über "Weniger Verletzungen wären wünschenswert".

Mentalität Was die Mentalität angeht, waren die Borussen janusköpfig. Mal war sie da, mal nicht. In Glasgow widersetzte sich Borussia dem gefürchteten Celtic Park, in Leverkusen und Florenz verwandelte sie 0:2-Rückstände in Siege, in Köln gewann sie das Derby und in Mainz nach dem Pokalaus reagierte sie stark. Gerade im ersten Saisonteil beherrschte Gladbach die "Entscheidungsspiele" - in den Champions-League-Play-offs gegen Bern, im DFB-Pokal und eben in Glasgow. Auch in Florenz waren sie bereit für die Großtat.

Danach war die Luft raus. Das Pokal-Halbfinale gegen Frankfurt ging verloren, weil vielleicht auch der letzte Wille fehlte, und ähnlich war es in den letzten drei Saisonspielen. Nach dem Sieg in Mainz war die Grundlage bestens, doch es gab nur noch drei Remis, zwei davon daheim. Auch hier wurde das Glück nicht erzwungen, die Siegermentalität war offenbar nicht ausreichend vorhanden, als es darauf ankam. Einen, der wie André Hahn am Ende der Vorsaison als "Mentalitätsmonster" voranging, gab es nicht.

Heim- und Auswärtsbilanz Was den Unterschied zwischen Heim- und Auswärtsspielen angeht, hat Borussia seit Jahren zwei Gesichter. Nur ist in der Rückrunde das Unfassbare passiert und die Verhältnisse haben sich umgekehrt. Auf lediglich ein Unentschieden vor der Winterpause folgten auswärts unter Hecking fünf Siege, zwei Unentschieden und nur zwei Niederlagen. Zu Hause dagegen gewann Borussia im Jahr 2017 nur noch drei Spiele und verlor genauso viele.

Auch hier gilt wie für so viele andere Bereiche, dass die neue Saison mehr Kontinuität bringen muss. Auswärts wirkte die Mannschaft zuletzt sehr reif und befreit, sie gewann als einziger Verein neben den Bayern in Köln und forderte den ungeschlagenen Hoffenheimern alles ab. Dagegen ging ihr im eigenen Stadion die Zielstrebigkeit ab, eine fast schon feindselige Atmosphäre, die ihr in den vergangenen Wochen im Borussia-Park von den Tribünen entgegenschlug, machte es nicht einfacher.

Standards Um sich eine Borussia vorzustellen, die bei Standards besonders gefährlich ist, war Anfang 2017 genauso viel Fantasie nötig wie bei einem ein Team, das auswärts besser spielt als zu Hause. Doch seit sich Co-Trainer Dirk Bremser um Ecken und Freistöße kümmert, sind die ein echtes Plus. Resultierte aus den ersten 92 Bundesliga-Ecken in dieser Saison ein einziges Tor, brachten die folgenden 50 dann fünf.

Unterm Strich waren - die Misere der Hinrunde eingeschlossen - nur Hoffenheim, Mainz und Leipzig effektiver. In vier Europa-League-Spielen fielen fünf Standardtore, vier davon in Florenz. Den positiven Trend gilt es zu bestätigen. Die Verpflichtung von Vincenzo Grifo kann helfen: Pro Spiel legte er die fünfmeisten Torschüsse nach Ecken und die siebtmeisten nach Freistößen auf. In Vestergaard findet er einen dankbaren Abnehmer - nur Robert Lewandowski kam häufiger nach Standards zum Abschluss.

Konstanz Vielleicht ist der neunte Platz genau die richtige Position für einen Verein, der diese Mixtur aus Höhen und Tiefen hinter sich hat. Unter den 34 Spielen in der Bundesliga waren kaum durchgehend starke und kaum furchtbare. Selbst beim 0:3 gegen Hertha ließ sich hinterher über die zielstrebigen ersten 15 Minuten reden, beim 1:4 in Dortmund führte Gladbach, um dann ganz schnell zwei Tore zu kassieren.

Dagegen waren beim 4:1 gegen Bremen nur die ersten 45 Minuten überzeugend und beim 3:2 gegen Leverkusen drehte Borussia ein 0:2, das an für sich auch nicht wirklich den Spielverlauf der ersten Halbzeit widerspiegelte. Jedes Lob lässt sich mit einem Aber versehen, jede negative Kritik mit einem positiven Aspekt entschärfen. Hinter Borussia liegt die Saison der 100 Wahrheiten. Mit ihrer Wankelmütigkeit hat die Mannschaft die Deutungshoheit über ihre Ergebnisse verloren.

Auf Neudeutsch würde die Forderung lauten, Borussia müsse wieder "straighter" werden, geradliniger.

Fohlenphilosophie Laszlo Bénes ist der jüngste Beleg dafür, dass junge Wilde bei Borussia gut aufgehoben sind. Der Slowake debütierte mit 19 Jahren - wie auch Djibril Sow (noch unter Schubert) und "Chance" Simakala, ein Eigengewächs. Bénes traf gleich zum Startelf-Einstand, er ist nach Mo Dahouds Abgang (da verliert Borussia mal wieder ein selbst gemachtes Talent) ein Hoffnungsträger für das zentrale Mittelfeld.

Mamadou Doucouré war auch als Talent eingeplant, doch der 19-jährige Franzose war nur verletzt. Für ihn ist es ein Neustart im Sommer. Dann kommen weitere Jungspunde dazu: Mittelfeldmann Mickaël Cuisance (17), Stürmer Julio Villalba (18) und wohl Moreto Cassamá (19), ebenfalls ein offensiver Mittelfeldspieler. Fast fertige Talente sind das. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie den Sprung zur Not auch schnell schaffen, ist groß, siehe Andreas Christensen oder Nico Elvedi.

Weiter setzt Borussia auch auf eigene Talente. Die Verteidiger Florian Mayer (19) und Mika Hanraths (17) sind Kandidaten, um in der kommenden Saison oben reinzuschnuppern. Mo Dahoud (sieben Jahre Gladbach) geht, und wohl auch Julian Korb (elf Jahre), der keine Perspektive mehr hat. Das wären dann zwei Ur-Borussen weniger.

(RP)
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