Ex-Torwart wird 50 Bei Borussia wurde Stiels Traum wahr

Gladbachs Ex-Torwart Jörg Stiel wird am Samstag 50. Er war Nummer eins und Kapitän – und die Vorgeschichte der Schweizer Ära in Gladbach.

Borussias Ex-Keeper Jörg Stiel.

Borussias Ex-Keeper Jörg Stiel.

Foto: Iamago

Gladbachs Ex-Torwart Jörg Stiel wird am Samstag 50. Er war Nummer eins und Kapitän — und die Vorgeschichte der Schweizer Ära in Gladbach.

Das Jahr, in dem er 50 wird, begann für Jörg Stiel im Krankenhaus. "Du wirst es nicht glauben, aber ein Floh hat mich umgehauen", sagt er. Stiel wurde von dem Insekt gebissen, daraus wurde eine Blutvergiftung. "Es war nicht lebensgefährlich, aber auch nicht ohne", sagt Stiel. Weswegen er den Jahreswechsel "ganz in Ruhe" verbrachte. "Wie es sich für einen Mann in meinem Alter gehört", sagt Stiel und lacht. Morgen ist sein Geburtstag. Als er 2001 Borusse wurde, war er 33, so lange musste er warten, bis sich sein Traum von der Bundesliga erfüllte.

Heute sind die Schweizer ein wesentlicher Teil der Gladbacher Gegenwartsgesichte. Derzeit gehören vier Eidgenossen zum Aufgebot der Gladbacher, drei von ihnen, Torwart Yann Sommer, Verteidiger Nico Elvedi und Sechser Denis Zakaria stehen regelmäßig in der Startelf.

Stiel war die Vorgeschichte dazu. Er sagte nach wenigen Tagen als Borusse: "Ich fühle mich wie eine Kugel, die reinpasst." Damit ist prägnant beschrieben, was mit ihm begann und sich einige Jahre später auf nahezu wundersame Weise fortsetzte, so dass die Schweizer zu einem Teil der DNA des Traditionsvereins vom Niederrhein wurden: Zakaria ist der bis dato achte eidgenössische Spieler seit 2001 und der sechste seit 2012, als Xhaka kam. Und dann ist da Lucien Favre, der Trainer, dessen Name für den Aufstieg der Gladbacher vom Fast-Absteiger zum fast ständigen Europa-Teilnehmer steht. "Die Schweizer haben bei uns in den vergangenen Jahren eine wichtige Rolle gespielt", sagt Borussias Manager Max Eberl.

Was seinen Nach-Nach-Nach-Nachfolger Sommer angeht, "passt es perfekt mit Borussia und ihm", sagt Stiel. "Yann ist ein agierender Torwart, genau das braucht Borussia für ihr Spiel. Seine Parade in Hannover zeigt seine Qualität, die enorme Sprungkraft und die starken Reflexe. Es war 2014 ein goldrichtiger Transfer", sagt Stiel.

Hobbyphilosoph, Querdenker, Lebenskünstler

Auch in seinem Fall war es so. Dass es eine Mischung aus purem Zufall, ansprechender Torhüter-Qualität und einer Notlüge war, die Stiel 2001 zu Borussias erster aus dem Ausland importierten Nummer eins machte, passt zur Laufbahn des Torhüters. Die war nicht immer geradeaus, sondern kurvig wie die Serpentinenstraßen in den Schweizer Bergen. 89 Bundesligaspiele machte Stiel für Borussia zwischen 2001 und 2004 — und hat viele Spuren hinterlassen in dieser Zeit. Er war immer einer, der über den Tellerrand des Mikrokosmos Profifußball hinausschaut, ein Hobbyphilosoph, ein Leader, ein Typ, ein Spaßvogel, ein Querdenker, ein Lebenskünstler. "Ich habe irgendwie mitbekommen, dass der Ball nicht nur rund ist, sondern auch flattert. Daher habe ich mich bemüht, Menschenkenntnisse zu erlangen, mich auch für soziale Gefüge zu interessieren", sagte Stiel, der 1993 für ein Jahr nach Mexiko wechselte, mal.

Er war noch ein Knirps, als er seine ersten Erfahrungen mit Borussia machte. Sein Vater Hanspeter (Pit) erzählte ihm von der guten alten Zeit der Gladbacher, von Netzer, Vogts und Heynckes. Und von Wolfgang Kleff, dem Torwart der Meisterjahre. Dass er später mit Kleff vor dem Tor in der Nordkurve des Bökelbergstadions sitzen und plaudern würde als dessen Nachfahre im Gladbacher Tor, daran verschwendete Stiel da noch keinen Gedanken.

Was aus dem Menschen Stiel geworden wäre, wenn Hermann Hesse "Narziß und Goldmund" nicht geschrieben hätte, ist schwer zu sagen. Sicher ist: Diese Erzählung inspirierte ihn, zig mal hat er die Geschichte vom Verstandsmenschen Narziß und dem Lebemann Goldmund gelesen, immer wieder "sehe ich etwas Neues darin, Sätze, die mich bewegen, Ansätze". Es geht um den Gegensatz von der Sehnsucht nach der Freiheit und einem achtbaren, geregelten Leben, es geht darum, ob der Verstand den Körper steuert oder der Körper den Verstand, um Kopf und Emotion. Stiel war als Fußballer von beidem getrieben, vom Wunsch nach Anerkennung und Perfektion und der Suche nach dem Glück. "Wer träumen kann, dem gehört die Welt", sagte Stiel. Abenteuerlust, die Freiheit, in einem Spiel, das Fußball heißt, die Bälle in die Hand nehmen zu dürfen, das hat Stiel auch am Dasein zwischen den Pfosten gereizt. Und ihn hat fasziniert, anders zu sein als die anderen, sich "abzugrenzen", deswegen habe "ich mir mit neun Jahren ein anderes Trikot und die großen Handschuhe, die mich faszinierten, angezogen".

Doch er musste um seine Karriere im Tor kämpfen. Nach dem Jahr in Mexiko ging er wieder in die Schweiz, scheiterte aber zunächst beim FC Zürich. Der Spaß am Fußball kam ihm abhanden, er war plötzlich arbeitslos, jobbte im Büro bei einer Fensterfirma. "Da war ich noch schlechter, als ich als Torwart war", gestand Stiel später. Er schwor, die Chance zu nutzen, so sie noch einmal kommen würde. Sie kam. Stiel kehrte zurück zum FC St. Gallen, das war 1996. "Das war einer der wichtigsten Momente in meinem Leben", sagte Stiel, der in dieser Zeit nebenbei halbtags als Bausekretär arbeitete. In der Ostschweiz wurde der früher Verpönte zum Publikumsliebling und zur Kultfigur und 2000 überraschend Meister. Stiel, der Suchende, hatte nun seinen Platz gefunden. "Ich habe für die kleinen Dinge ein Bewusstsein entwickelt", sagte Stiel. Der Spaß war wieder da, vor allem aber die Lockerheit. Die war es schließlich, die ihm den Traumjob in der Bundesliga einbrachte.

"Ich gehe mehr so in Richtung 1,77 Meter"

Borussias damaliger Sportdirektor Christian Hochstätter und Trainer Hans Meyer schauten sich ein Spiel des FC St. Gallen an, eigentlich, weil sie einen Verteidiger beobachten wollten. Doch dann war da dieser Torwart, der an der Strafraumgrenze mit einer Hand einen Ball abfing: Jörg Stiel. Ein bisschen kleiner ("Ich habe das einfach immer so gesagt: 1,80 Meter, 80 Kilo, aber ich gehe mehr in Richtung 1,77 Meter") war er als erhofft, doch mit Einlagen, die ihn ein paar Zentimeter dem Himmel näher brachten, wurde das geregelt. Er ist indes Durchschnitt im Gladbacher Tor — der Länge nach. Auch die langjährigen Stammtorhüter Wolfgang Kleff und Uwe Kamps waren "180er", Manfred Orzessek maß 1,76 Meter, Yann Sommer ist 1,82 Meter groß.

Ein durchschnittlicher Torwart war Stiel indes nie. Stiel war eine Notlösung, aber er wurde zum Glücksfall. Nicht weil er der beste aller Gladbacher Torhüter war, aber ein Mann mit viel Charisma, der seinen Job sehr offensiv interpretierte und daher durch gewieftes Stellungsspiel viele Gefahren schon entschärfte, bevor sie richtig gefährlich wurden. In seinem ersten Spiel gab es ein 1:0 gegen die Bayern. Stiel war sofort angekommen und gehörte zu jener Achse, die Borussia nach dem ersten Aufstieg 2001 stabilisierte. Der Schweizer Nationaltorwart mit dem unorthodoxen Stil wurde schnell Publikumsliebling und war auch Kapitän der Borussen.

2004 endete seine Zeit in Gladbach. In diesem Sommer war er die Schweizer Nummer eins bei der Europameisterschaft. Stiel schied in Portugal nach den drei Vorrundenspielen aus. Es gab ein 0:0 gegen Kroatien, ein 0:3 gegen England und ein 1:3 gegen Frankreich, das Stiels 21. und letztes Länderspiel war. Doch eine Szene blieb in der allgemeinen Erinnerung an diese EM haften: Gegen Kroatien flog ein langer Ball heran, 80 Meter entfernt getreten von Milan Rapaic, setzte auf, sauste an Stiel vorbei auf das leere Tor zu. Doch der 36-Jährige, mithin ältester Spieler des Turniers, rannte, rutschte und war da, bevor Roteiro, der flattrige EM-Ball, ins Tor rollte — Stiel stoppte das Unheil im Liegen mit dem Kopf. Das dazugehörige Youtube-Video erfreut sich nach wie vor größter Beliebtheit.

Nach der EM war auch nach der Karriere. Stiel fand keinen neuen Verein, da entschied er, aufzuhören. Stiels Leben nach dem Fußball war viele Jahre lang wie zuvor seine Karriere: kurvig. Er versuchte sich in einigen Dingen. Unter anderem als Verwaltungsratsmitglied beim FC St. Gallen (2005), Torwarttrainer beim österreichischen Erstligisten SC Rheindorf Altach (2006), Mitglied der Schweizer Beachsoccer-Nationalmannschaft, er organisierte Events wie die Schneefußball-WM in Arosa (2012). Zudem ist Stiel Generalvertreter der Firma Reusch in der Schweiz (seit 2007). Und er hatte eine eigene Fußball-Sendung im Schweizer Fernsehen: "Kick it".

Nach Gladbach kehrte er erstmals zurück, als der frühere Kollege Uwe Kamps zum Abschiedsspiel einlud. Danach hatte er noch mal einen Job bei Borussia: 2009 holte ihn Max Eberl, sein früherer Teamkollege und Freund, inzwischen Manager im Borussia-Park, als Dolmetscher für die spanische Fraktion im Borussen-Team. 18 Monate dauerte das Engagement, bevor Stiels zweite Borussia-Episode auslief.

"Ich habe ein paar Jahre verschenkt"

Heute lehrt er die Nachwuchstorleute des Schweizer Meisters FC Basel die Kunst des Tore-Verhinderns. Mit diesem Job (für Reusch arbeitet er weiterhin) hat er zugleich zurück zu sich selbst gefunden. "Ich wollte nach der Karriere nicht mehr auf dem Platz stehen, habe versucht, den Fußball zu ersetzen. Ich habe ein paar Jahre verschenkt. Jetzt weiß ich aber, dass ich hierher gehöre", sagt Stiel. Der tägliche Trainingsbetrieb, die Arbeit mit dem Ball, der Geruch des Rasens — das ist Stiels Welt, dazu steht er jetzt auch. "Es brauchte wohl die Umwege, um das zu erkennen. Jetzt kann ich sagen: Das Beziehungsgeflecht stimmt, der Job macht Spaß, alles gut", sagt er.

Doch es gibt weiterhin noch kleine Serpentinen in seinem Leben, sonst wäre er nicht Jörg Stiel. So war er zuletzt Schauspieler. "Flitzer" heißt die Komödie von Peter Luisi, in der Stiel mitspielt. "Es war eine interessante Erfahrung, auch wenn es sicher ein Unikat bleiben wird. Aber ich muss sagen: Als ich mich dann auf der Leinwand sah, fand ich mich echt authentisch", sagt Stiel. Verwundern kann das nicht. Denn Stiel mimte einen Torhüter. "Ich spiele in dem Film für den FC Baden, weil die Geschichte in Baden spielt. Speziell daran ist, dass ich ursprünglich aus Baden komme und auch dort meine Fußballkarriere als E-Junior begonnen habe. Mit diesem Film schließt sich sozusagen ein Kreis für mich", sagt Stiel.

(kk)
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