Borussia Mönchengladbach Kann Spuren von Barcelona enthalten

Mönchengladbach · Lucien Favre ließ Gladbach den Barca-Stil auf seine Art spielen: Tiki-Taka-Hochgeschwindigkeits-Ballbesitz-Fußball. André Schubert hat ihn variiert.

 Am 11. Februar 2012 erreichte "Borussia Barcelona" um Marco Reus beim 3:0 gegen Schalke den Höhepunkt.

Am 11. Februar 2012 erreichte "Borussia Barcelona" um Marco Reus beim 3:0 gegen Schalke den Höhepunkt.

Foto: dpa, Rolf Vennenbernd

Es ist die Zeit für Sentimentalität. Gibt es ein besseres Medium dafür als den Fußball? Oh ja, die Musik, die kommt ihm gleich, was das angeht. An sentimentalen Tagen sitzt man vor dem Plattenregal und hört sich durch die eigene Jugendzeit. Wie der Held Rob von Nicks Hornbys großartigem Roman "High Fidelity" (Hornby ist der Typ, der auch "Fever Pitch" geschrieben hat, das schönste Fußballfan-Buch aller Zeiten).

Rob kriegt den Blues, reißt alle Platten aus dem Regal und ordnet sie "biografisch" neu: Jede Platte hat eine Geschichte, und an die muss er sich erinnern, wenn er sie sucht. "High Fidelity" ist ein Buch über Musik, vor allem aber über Gefühle. Und die Suche nach der großen Liebe. Rob sucht sie, indem er seine verlorenen Lieben wiederbelebt, er hakt nach und nach die Liste der "ewigen Top Five meiner unvergesslichen Trennungen für die einsame Insel in chronologischer Reihenfolge" ab.

Laura, die eigentlich die Nummer eins ist, fehlt, aber es geht zu weit, zu berichten warum und wieso. Hier geht es um Sentimentalität — und um den Fußball. Um Borussia Mönchengladbach, genauer gesagt. Und noch genauer gesagt: um Borussia und ihre Beziehung zum FC Barcelona. Und die Frage: Wie viel Barca steckt in Borussia?

Es ist tatsächlich aber auch die Geschichte einer Trennung, siehe "High Fidelity" (übrigens sehenswert verfi lmt mit John Cusack und einem herrlich-skurrilen Jack Black). Geht es um Barca, gibt es aus Borussen-Sicht eine klangvolle Trennungsliste: Hennes Weisweiler, der 1975 nach dem tollen Uefa-Cup-Triumph, bei der seine Fohlenelf auf dem Höhepunkt ihres Schaffens war, zu den Katalanen wechselte. Den diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Klubs hat das damals nicht gut getan.

Auch 1979, als Allan Simonsen, gerade Europa Fußballer des Jahres und Uefa-Cup-Sieger mit Gladbach geworden, zu Barca ging, galt der spanische Klub eher als Raubfi sch denn als bewundernswert. Abgänge wie diese zeigten Borussia: Trotz der wundervollen 70er und der internationalen Titel war sie ein kleiner Klub, der mit den Großen nicht mithalten konnte.

2014, als Marc-André ter Stegen dem Ruf der Katalanen folgte, war da kein Groll, sondern nur Stolz. Ein Gladbacher Jung, aufgezogen in der Fohlen-Akademie, zum Profi geworden bei Borussia, ein pures Eigengewächs, ist gut genug, um zu einem der besten Klubs der Welt zu gehen — das wurde als Prädikat verstanden. Und das Geld, das es dafür gab, half, den Verlust zu kompensieren mit Yann Sommer (der in diesem Sommer auch zum Objekt der Begierde Barcelonas wurde). Dank ter Stegen darf man sagen: Wie 1975 und 1979 steckt auch heute ein gutes Stück Borussia im FC Barcelona.

Die Nummer eins der Trennungen, die mit Barca zu tun haben, passierte jedoch nach dem fünften Bundesliga-Spieltag der vergangenen Saison: Damals entschied sich Lucien Favre, der schmale Schweizer, der Borussia aus dem Schlund des Abstiegsgespenstes gerissen, revitalisiert und zum Europa-Teilnehmer gemacht hatte, nicht mehr Borussen-Trainer zu sein. Wer nun will, darf die traurigsten Songs aus dem Plattenschrank zerren und sie rauf und runter hören. Oder aber er durchwühlt die eigene Erinnerung oder das Internet nach dem, was Favre mit Borussia gemacht hat.

Es ist nicht die feine Art, sich mit fremden Federn zu schmücken, und man ist auch nicht gern die Kopie von irgendwem oder irgendwas. Doch war der Vergleich, den es 2012 gab, das höchstmögliche Gütesiegel: "Borussia Barcelona". Das ist nicht nur eine hübsche Alliteration, die schon nach einem herrlichen Doppelpass klingt, sondern ein Ritterschlag gewesen. Favre ist von jeher bekennender Verehrer des Barca- Stils. Er bewunderte Johan Cruyff, den großen Niederländer, der ihn kreierte, und Pep Guardiola, der ihn bis in den letzten Winkel ausfinkelte.

Was Favre am Niederrhein schuf, war keine billige Kopie, sondern ein kleines Äquivalent: Borussia spielte den Barca-Stil auf ihre Art: Tiki-Taka-Hochgeschwindigkeits-Ballbesitz-Fußball war das auf dem Höhepunkt des Favre‘schen Schaffens. Forschen wir: Der Plattenschrank der Fußball-Fans ist Youtube. Dort findet sich authentisches Bildmaterial zur wohl engsten Liebkosung des niederrheinischen mit dem katalanischen Klub.

Wer "Borussia Barcelona" eintippt in die Suchleiste, der bekommt ein hübsches Video zu sehen, drei Minuten und 17 Sekunden lang, über das in Borussias Vereinschronik geschrieben steht: "Es zeigt minimal mit dem Zeitraffer bearbeitete Spielszenen von Borussia aus einer Saison, in der sich viele Fans verwundert die Augen rieben. Unterlegt von dramatischer Musik nehmen die Borussen Spitzenteams wie Bayern München und Schalke 04 regelrecht auseinander, kombinieren sich scheinbar spielerisch leicht durch die Abwehrreihen und befreien sich mit One-Touch-Fußball, in Barcelona zum Tiki-Taka veredelt, auch aus brenzligen Situationen."

"Borussia Barcelona" funktionierte im Dreieck: Jeder Ballbesitzende hatte eine Anspielstation auf jeder Seite, zugleich konnte er quer spielen und steil gehen. Marco Reus, Juan Arango, Patrick Herrmann und Mike Hanke zelebrierten die Kunst der flachen Bälle hingebungsvoll. Das 3:0 gegen Schalke 04 am 11. Februar 2012 war der Prototyp von "Borussia Barcelona". Hankes Treffer zum 2:0 darf als symbolisch für diese Phase definiert werden.

Hanke, von Favre vom torlosen Torjäger zur Neuneinhalb, dem Mischwesen zwischen Stürmer und Mittelfeldmann, umformatiert, spielte einen doppelten Doppelpass, zunächst mit Patrick Herrmann, dann mit Juan Arango. Danach schoss er den Ball ins Tor. Man konnte nicht anders, man musste applaudieren. "Es war sehr schön anzusehen, oder? Bei dem zweiten Doppelpass habe ich vorher einen Schuss angetäuscht, dann aber mit Juan den Doppelpass gespielt. Es hat geklappt", erzählte Hanke und war stolz wie Oskar.

Das alles war nahe an der Perfektion, und wer "Barcelona" sagt, meint fußballerische Perfektion. Nun trifft Borussia vier Jahre später auf eben dieses Barcelona, das Original. Man muss fast sagen: vier Jahre zu spät! Was wäre es für ein Fest gewesen, wenn Favres Borussia Barca gefordert hätte, was für eine Geschichte. Favre, das darf man vermuten, wäre vor Stolz auf einer Wolke umhergeschwebt, er wäre hibbelig gewesen wie ein kleines Kind.

Und was wäre vielleicht möglich gewesen? Favre, der heillose Akribiker, der auch bei Barca hospitierte, hat schließlich den Code von Barca bis in letzte Winkelchen studiert, seziert und analysiert. Und, ja, er hat ihn auch entschlüsselt: Das zeigten seine Spiele gegen Pep Guardiolas Bayern, die, natürlich, auch das Barca-Gen in sich trugen. Das 2:0 der Borussen in München durch die beiden Raffael-Tore am 22. März 2015 belegt das nachhaltig.

Aber was ist übrig von damals? Wie viel Barcelona steckt in der aktuellen Borussia, in der von André Schubert? Nun, der ganzheitliche Ansatz, den Cruyff einst bei den Katalanen implantiert hat, der gilt auch bei Schubert: Stürmer verteidigen, Verteidiger stürmen. Borussia setzt wie früher auf Ballbesitz, doch ist der Fußball ursprünglicher, wilder geworden: Wo bei Favre totale Kontrolle von Ball und Gegner waren, ist bei Schubert der überfallartige Angriff: auf den Ball und auf den Gegner. Den Ball erobern und dann ab dafür — so geht Schubert-Fußball.

Wie Barcelona ist Borussia nach wie vor ein Team, das dem Gegner den Ball nicht gönnt. Geht er verloren, gilt es, ihn schnellstmöglich zurückzuerobern. Barca beherrscht gar die Kunst, Ballverluste so anzulegen, dass der Gegner aus den Angeln gehoben werden kann, wenn der Ball zurückerobert wird. Wer die eigene Passivität (Ballverlust und folgend Ballbesitz des Gegners) aktiv einsetzt, der hat die ganz große Fußballkunst auf seiner Seite. Denn er beherrscht den Gegner wie in Hypnose.

So weit ist Borussia nicht. Doch an guten Tagen, wie zuletzt gegen Bremen in der ersten Halbzeit, da ist sie so brutal unwiderstehlich, da kombiniert sie so frisch, fröhlich und frei, dass man sagen darf: Es ist ein Hauch von Barcelona, der da zu spüren ist. Es ist zu vermuten, dass Favre, nun Trainer in Nizza, an diesem 28. September hinschauen wird, wenn sich Borussia und der FC Barcelona treffen. Er wird ein wenig wehmütig sein, denn irgendwie ist es auch "sein" Spiel: Er hat Borussia im Geiste des FC Barcelona neu erfunden, damals im Jahr 2012.

Favres Idee von "Borussia Barcelona" ist der Ursprung von allem, was passiert ist in Mönchengladbach in den vergangenen Jahren: Sie hat den rasanten Aufstieg möglich gemacht. Nun heißt es: Borussia gegen Barcelona. Genau genommen klingt das viel besser als "Borussia Barcelona". Die nämlich konnte Barca trotz Marco Reus und Co. bestenfalls auf der Playstation herausfordern.

Der letzte Satz in "High Fidelity" ist: "Heute Abend sehe ich zum ersten Mal im Leben, wie das geht." Das passt zu Borussias "magischer Nacht". Am Mittwoch gibt es zum ersten Mal Barcelona real — und Borussia ist 100 Prozent heiß darauf zu zeigen, dass sie Barca kann. Mit allem Respekt. Aber ohne Sentimentalität und ohne deren böse Schwester, die Angst.

(kk)
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