Borussias Videoanalyst Schützendorf "Die Spieler haben eine Verantwortung"

Mönchengladbach · Borussias Videoanalyst Philipp Schützendorf hat in seiner Doktorarbeit untersucht, wie fair der Fußball ist. "Die Entwicklung ist positiv", sagt er.

Philipp Schützendorf mit seiner Videokamera.

Philipp Schützendorf mit seiner Videokamera.

Foto: Dirk Päffgen

Wie ist es um die Fairness im Fußball bestellt? Diese Frage hat Philipp Schützendorf, Borussias Videoanalyst, in seiner Doktorarbeit untersucht. Er hat Spieler, Funktionäre und Schiedsrichter befragt und sie auch mit Szenen konfrontiert, die sie dann bewerten mussten. Karsten Kellermann sprach mit Schützendorf über die Ergebnisse seiner Untersuchung.

Herr Schützendorf, Weihnachten geht es um das Miteinander der Menschen - ist Fairness das passende Prinzip dafür im Sport?

Schützendorf Absolut. Es geht ja immer um Respekt untereinander, um das Miteinander. Aber im Grundsatz ist es natürlich so, dass jeder Einzelne für sich definiert, was Fairness für ihn ist und wie er auf dem Platz Fairness lebt.

Was ist für Sie Fairness?

Schützendorf Es ist eine Verantwortung, die die Spieler haben - in Bezug auf andere, aber auch bezogen auf das Spiel. Jeder Spieler muss sich bewusst sein, dass er Teil des Spiels ist und dass er diese Verantwortung trägt. Sonst funktioniert es nicht. Beim Fußball kann ich beispielsweise nicht den Ball in die Hand nehmen. Es gibt die Spielregeln, an die ich mich halten muss. Doch es gibt auch moralische Aspekte, in denen es fließend ist.

Zum Beispiel?

Schützendorf Die Vorbildfunktion, die man als Fußballprofi hat. Wenn ich weiß, da sind 54.000 Zuschauer, darunter viele Kinder, dann muss ich gewisse moralische Regeln beachten. Wobei die Umsetzung das eine Frage des Alters ist, in dem ein Spieler ist. Mit 19 gelten andere individuelle Richtlinien als mit 30. Der 19-Jährige will sich im Profi-Fußball noch behaupten und profilieren, das führt dazu, dass er sich anders verhält, als der erfahrene, gesettelte Spieler. Auch das Gefühl für bestimmte Situationen entwickelt und verändert sich im Lauf einer Karriere.

Ist der Fußball fair?

Schützendorf Ja, das muss man sagen. Die Situationen, in denen das anders wirkt, werden oft medial besonders herausgestellt. Wie Schwalben. Das wird dann zu einer generellen Debatte stilisiert und bekommt, meines Erachtens nach unnötig, eine zu große Dimension zugewiesen. Allerdings, auch das ist ein Ergebnis meiner Untersuchung, müsste man offener mit dem Thema Fairness umgehen.

Das heißt?

Schützendorf Man muss einfach akzeptieren, dass auch Unfairness zum Fußball dazugehört. Alle wissen, dass fair gespielt werden muss, weil es sonst nicht so funktioniert. Aber sie wissen ebenso, dass auch unfaire Aktionen ein Teil des Spiels sind. Zum Beispiel das taktische Foul. Das ist bei Spielern durchaus akzeptiert - wenn es kein Foul ist, bei dem jemand zu Schaden kommt. Wenn ich einen Gegner im Mittelfeld am Trikot festhalte, ist das etwas anderes, als wenn ich ihn umhaue und eine Verletzung riskiere. Oder nehmen wir das Beispiel, dass ein Spieler verletzt am Boden liegt und der Ball ins Aus gespielt wird vom Gegner. Das wird im Allgemeinen als das herausragende Beispiel für Fairplay angesehen. Allerdings haben die Spieler, die ich für meine Untersuchung interviewt habe, gesagt: Diese Situationen werden oft genutzt als taktisches Mittel, um Zeit zu schinden oder den Spielfluss zu unterbrechen. Das Verrückte ist: Die Aktion ist eigentlich unfair, wird aber als Fairness wahrgenommen. Die Spieler sagen: Es sollte hier kein institutionalisiertes Rausspielen des Balles geben, sondern es sollte die Entscheidung des Schiedsrichters sein, wann das Spiel unterbrochen wird. Wenn wirklich etwas Schwerwiegendes ist, wissen die Spieler das und handeln entsprechend.

Ist Fairness ein Grundwert des Fußballs oder wird sie durch die Regeln quasi aufgedrückt?

Schützendorf Ich glaube, dass sie ein Grundelement des Sports ist, dass die Sportler wissen, dass sie fair spielen müssen. Und dann kommen die Regeln dazu. Ich habe auch mit dem früheren Schiedsrichter Markus Merk gesprochen. Er sagt, das Beste wäre, wenn sich der Schiedsrichter komplett aus dem Spiel rausziehen kann. Den Ansatz gibt es ja im Jugendfußball, wo es Spiele ohne Schiedsrichter gibt. Oder auf dem Bolzplatz. Da regelt man die Dinge untereinander.

Werden Spiele unfairer, wenn es um mehr geht?

Schützendorf Alle befragten Spieler haben mir auch gesagt, dass der Erfolg über allem steht. Das muss man wissen und akzeptieren. Man darf nicht vergessen, dass es Berufsspieler sind, über die wir reden. Sie müssen erfolgreich sein - und da ist es oft ein schmaler Grat zwischen Fairness und Erfolg.

Dann müsste im Amateurfußball eine größere Fairness herrschen.

Schützendorf So könnte man es im Umkehrschluss sagen. Aber die Bundesliga taugt als Vorbild. Das war früher sicher anders. So sagte mir zum Beispiel ein langjähriger Bundesliga-Trainer, dass es in den 80ern noch so war, dass ein Spielmacher einfach mal bewusst gefoult wurde, um ihn aus dem Spiel zu nehmen. Das gibt es heute so kaum noch. Das liegt sicherlich auch an der Medialisierung des Fußballs. Es sind heute 16 Kameras im Stadion, die jede Szene aus jeder Perspektive einfangen - da bleibt nichts verborgen. Außerdem gehen die Spieler heute, so glaube ich, bewusster mit ihrem Körper um - und auch mit dem Körper des Gegners. Insgesamt kann man sagen, dass die Spieler heute freundschaftlicher und bewusster miteinander umgehen. Was mir persönlich gefällt, ist, wenn sie die Spieler nach dem Spiel am Mittelkreis treffen und sagen: Wir haben uns 90 Minuten bekämpft, aber jetzt ist das Spiel vorbei und wir können uns gegenseitig abklatschen.

Kann man das den Fans im Fußball verkaufen? Denn die Gegnerschaft ist ja da, und genau das wird von den Fans ja auch gelebt.

Schützendorf Darum wäre es ja genau die richtige Botschaft an die Fans. Beim Confed-Cup gab es verbindlich dieses Abklatschen nach dem Spiel. Das könnte ein Weg sein, aber es muss durchgezogen werden. Das schließt auch nicht aus, kontrovers über ein Spiel zu diskutieren.

Nun wird oft beklagt, dass Typen im Fußball fehlen. Typen wie Effenberg oder van Bommel, Leadertypen, die aber auch über die Aggressivität kommen und ihre Rolle auch so interpretiert haben, auch mal durch ein Foulspiel ein Zeichen zu setzten. Schließen sich solche Typen und der grundsätzliche Fairnessgedanke nicht aus?

Schützendorf Das ist sicherlich eine Vorstellung, die sich etwas überholt hat. Es gibt einfach Spielertypen, für die Aggression als Stimulus wichtig ist, um Leistung zu bringen. Sie kommen über einen Zweikampf ins Spiel rein, bringen sich so in einen Flow. Den wünscht sich jeder Spieler, um in seinem Spiel zu sein. Es ist sicherlich auch hier ein schmaler Grat, inwieweit Härte der Weg zu diesem Flow sein kann.

Aber Fairness und kommerzieller Sport schließen sich nicht aus?

Schützendorf Nein. Der Fairness-Begriff hat eine lange Geschichte im Sport und ist auch heute noch vielen Spielern wichtig. Alle wissen mit dem Begriff etwas anzufangen und sind sich bewusst, dass er dazu gehört. Es gibt auch in Mannschaften eine Art Selbstregulierung.

Aber die Spieler wissen auch, wie wichtig der Erfolg ist, und welche Konsequenzen es hat, wenn man verliert. Beispiel: WM-Finale, 0:0, es gibt eine Elfmeter-Situation - und der Spieler sagt: Ich wurde nicht berührt. Es gibt daher nicht den Elfmeter. Ist das Fairplay oder eine Dummheit?

Schützendorf Der frühere Kölner Alpay hat im Quali-Spiel gegen Kroatien einen Spieler laufenlassen, statt ihn umzutreten. Es gab ein Tor, das er mit einem Foul hätte verhindern können. Danach wurde er in seiner Heimat arg beschimpft. Und fortan gab es einen anderen Alpay, einen, der auf alles getreten hat, was sich bewegte. Das war gelernt. Es gibt natürlich eine gewisse Kosten-Nutzen-Rechnung: Wo versuche ich, fair zu bleiben? Wo steht der Erfolg über allem? Das muss jeder mit sich ausmachen. Man muss in gewissen Situationen da auch mal Verständnis haben und sagen, statt alles zu verurteilen: Ja, es geht um viel und ich würde genauso handeln.

Ist Fußball moralisch oder verdirbt Geld die Moral?

Schützendorf Das kann man pauschal nicht sagen. Man kann auch viel Geld als Profi verdienen und trotzdem ein hohes Moralverständnis haben. Ich denke da zum Beispiel an Martin Stranzl, der durchaus hart im Zweikampf agiert hat, aber ebenso konsequent sein hohes Moralverständnis auf und neben dem Platz gelebt und vermittelt hat. Der Profifußball ist fair. Man muss einfach ganz realistisch sein in der Bewertung und nicht übertriebene moralische Ansätze haben. Manche Sachen gehören einfach dazu. Und: Die Entwicklung ist positiv in den letzten Jahren.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort