Borussia Mönchengladbach Der Star ist die Mannschaft

Mönchengladbach · Berti Vogts' legendäres Motto von der EM 1996 besitzt in Borussias abgelaufener Saison absolute Gültigkeit. Platz drei ist ein Erfolg des Kollektivs.

Eine Torflut mit Rekorden und Jubiläen
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Es gibt Redewendungen, die tauchen irgendwann in der Fußballersprache auf, finden dort Anklang, werden dort heimisch und gehören fortan zur verbalen Grundausstattung. Ob eine solche Floskel den letzten Schritt hinein ins anerkannte Vokabular Fußballdeutschlands geschafft hat, wird schließlich in der Regel daran gemessen, ob das Verwenden dieser besagten Redewendung in einer Talk-Show am Sonntagmorgen dazu führt, dass derjenige Geld ins sogenannte Phrasenschwein werfen muss.

"Der Star ist die Mannschaft" würde heute in jedem Fall Münzen vor den TV-Kameras klimpern lassen. Seit 1996, also immerhin schon 19 Jahre lang, geistert diese Phrase landauf, landab durch die Diskussionen um Deutschlands beliebtesten Sport. Ein Gladbacher hatte sie in die Welt geworfen. Berti Vogts, Borussias Rekord-Bundesligaspieler und 1996 Nationalcoach des Europameisters Deutschland, prägte diese Aussage während des Turniers in England. Und auch wenn dieses Hohe Lied aufs Kollektiv seitdem zuweilen zur Plattitüde verkommen ist — und Vogts' damaliger Musterschüler Matthias Sammer das inzwischen sogar ganz anders sieht ("Der Star ist nicht die Mannschaft! Wenn wir im Nachwuchsbereich nicht die Individualität des Einzelnen anerkennen würden, hätten wir heute keine Özils und keine Götzes", sagte Bayerns heutiger Sportdirektor 2012 der "Süddeutschen Zeitung".) — so gibt es doch immer wieder Beispiele, in denen der Ausspruch von 1996 nach wie vor Gültigkeit besitzt. Borussia Mönchengladbachs abgelaufene Saison ist so ein Beispiel.

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Favres Credo vom Zusammenhalt

Gladbachs erstmaliger Einzug in die Gruppenphase der Champions League ist ein Gemeinschaftswerk. Daran ließ nicht zuletzt Lucien Favre nach dem vorentscheidenden 2:0-Sieg in Bremen am vorletzten Spieltag keine Zweifel. "Es ist ein Erfolg, für den ganzen Verein, für alle, für die Spieler, für die Zusammenarbeit. Es ist kein individueller Erfolg für niemanden", sagte der Borussen-Trainer. Einen Einzelnen zu sehr herauszuheben, das geht für den Schweizer gar nicht. Wenn die Öffentlichkeit einen seiner Schützlinge zu sehr auf einen Thron hebt, betont Favre reflexartig das Kollektiv. Heldenkult entspricht nicht seinem Naturell. Als er nach dem Schlussakkord gegen Augsburg vor der Nordkurve allein die Lobeshymnen des Volkes entgegen nehmen sollte, wehrte er sich mit Händen und Füßen solange, bis er mit seinen Co-Trainern Frank Geideck und Manfred Stefes vortrat — als Trainer-"Team" eben.

Dieses Primat des Kollektivs haben Favres Spieler inzwischen genauso verinnerlicht wie das Von-Spielzu- Spiel-Denken ihres Trainers. Als Torhüter Yann Sommer in Bremen mit dem 15. Zu-Null-Spiel der Saison einen Rekord aufstellte, betonte er anschließend: "Natürlich macht das stolz, aber auch das ist ein Verdienst der Mannschaft." Und Sportdirektor Max Eberl nahm den Gedanken von der Mannschaft als Star ebenfalls nur zu gerne auf, als er nach dem Erfolgsrezept dieser Spielzeit gefragt wurde: "Wir haben eine sehr, sehr gute Mannschaft mit einem herausragenden Trainer. Und diese Mischung macht es eben aus", sagte er.

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Foto: dpa, rwe tmk

Der verbreiterte Kader samt eingeführter Rotation bereitete dabei zu Saisonbeginn im Borussia-Park den Nährboden für die Geschichte vom erfolgreichen Miteinander. Denn, so die Botschaft, wo von Spiel zu Spiel die Belastung dreier Wettbewerbe immer wieder ohne Qualitätsverlust auf andere Schultern verteilt werden kann, da kann niemand so herausstechen, dass er als Star vor den anderen durchginge. Natürlich gab es als Sockel dieser Rotation ein Gerüst von Spielern wie Sommer, Granit Xhaka, Tony Jantschke, Martin Stranzl (wenn fit) und Oscar Wendt (in der Rückrunde), die dann irgendwie doch den Tick unersetzlicher waren als der Rest. Aber auch unter ihnen war kein Vorturner auszumachen, der vom Kollektiv nicht mehr einzufangen gewesen wäre. Der Vorteil bei der Sache: Wo der Gegner nicht den einen Star bei Borussia ausmachen kann, dessen Lahmlegen das ganze Spiel der Fohlen lahmlegt, wird die Mannschaft automatisch schwerer auszurechnen.

Keine Chance für Stinkstiefel

Hinzukommt: Wo, wie in Gladbach, die Wichtigkeit jedes einzelnen betont wird, hat es jeder Einzelne auch schwerer, auszuscheren und in Phasen persönlicher Unzufriedenheit seinem eventuellen Unmut verbal Luft zu verschaffen. Der Gruppendruck regelt so etwas ganz alleine, denn jeder, der sich in der Manier eines Stinkstiefels einen Ego-Trip leisten würde, weiß, dass ihn dies bei den Kollegen Respekt und Sympathien kostet. Gegenseitige Wertschätzung als Kitt des Kollektivs. "Das Arbeiten im Kreis der Mitspieler ist auf jeden Fall angenehmer, wenn auch dort die Wertschätzung da ist. Das ist für mich ein wichtiger Faktor", sagt Stranzl.

Das Motto von der Mannschaft als Star ist dabei aber in Mönchengladbach auch Teil der langfristig angelegten Überlegung, nur über die Zusammenstellung eines harmonierenden Kaders Erfolg haben zu können. Nicht jeder Spielertyp muss stromlinienförmig sein, nur die Mannschaft als Ganzes soll sich stromlinienförmig dem übergeordneten Ziel unterordnen. "Die Jungs sollen weiterhin alle ihren Charakter haben und nicht stromlinienförmig sein. Ein Spieler soll ein Typ sein, und ich glaube, jeder ist auch ein Stück weit ein Typ", sagt Eberl. Ein Xhaka mit dem Herz auf der Zunge, ein ruhigerer Jantschke, ein flippiger Ibrahima Traoré, ein routinierter Stranzl — jeder ist auf seine Art speziell, zusammen formten sie in dieser Spielzeit jedoch ein stets stimmiges Gesamtbild. "Der Verein hat etwas aufgebaut, etwas aufbauen können, und das Gerüst ist schon sehr, sehr stabil im Moment. Darauf kann man schon stolz sein", findet Jantschke.

Nun stellt sich dieses Kollektiv also der Herausforderung Champions League. Ohne einen großen Anführer wie in früheren Tagen. Ohne einen Günter Netzer. Ohne einen Stefan Effenberg. Und es wird eben auch definitiv kein großer Anführer zum Kader dazustoßen. Keiner, der von der Ablösesumme und vom Gehalt alles Vorhandene sprengt. Das ist mit Eberl nicht zu machen. Und mit Favre auch nicht. Klar, Borussia wird durch die noch einmal gestiegenen Prämien in der Königsklasse neureich, aber sie will eben nicht die Fehler anderer Neureicher machen. Die niederrheinische Bodenständigkeit ist den Verantwortlichen im Verein so zum immerwährenden Begleiter geworden. Ein bisschen so wie der Sklave auf dem Triumphwagen, der dem siegreichen römischen Feldherr stets ins Ohr flüsterte: "Bedenke, dass du sterblich bist!" Auch so eine markante Phrase. Indes keine, für die man heute ins Phrasenschwein zahlen müsste.

(RP)
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