Borussia Mönchengladbach Kein Pass für die Ewigkeit

Mönchengladbach · Hans-Jürgen Wittkamp war vor 37 Jahren beim 0:3 in Liverpool der letzte Borusse, der in der Königsklasse den Ball berührte.

 Den bislang letzten Pass eines Borussen in der Königsklasse spielte er: Hans-Jürgen Wittkamp. Mit Borussia verlor der torgefährliche Libero 1978 beim FC Liverpool 0:3 (links). Sein wichtigster Treffer gelang dem heute 68-Jährigen im Jahr zuvor im Landesmeister-Halbfinale gegen Kiew (re.).

Den bislang letzten Pass eines Borussen in der Königsklasse spielte er: Hans-Jürgen Wittkamp. Mit Borussia verlor der torgefährliche Libero 1978 beim FC Liverpool 0:3 (links). Sein wichtigster Treffer gelang dem heute 68-Jährigen im Jahr zuvor im Landesmeister-Halbfinale gegen Kiew (re.).

Foto: Marcel Kusch, Horstmüller (2)

Manche Pässe gehen in die Geschichte ein, weil sie ein wichtiges Spiel entscheiden. Weil sie spektakulär sind. Genial. Wahnsinnig. Der Pass, den Hans-Jürgen Wittkamp an diesem Abend vor 37 Jahren spielt, ist all das nicht. Er sieht aus wie ein normaler Pass, nein, es ist nicht einmal ein sonderlich guter. Hätte Wittkamp ihn besser gespielt, würde dieser Text nicht von ihm handeln, sondern von Kalle Del'Haye.

Mittwoch, 12. April 1978. Halbfinale im Europapokal der Landesmeister. Es laufen die letzten Sekunden im Rückspiel zwischen dem FC Liverpool und Borussia Mönchengladbach. Liverpool führt 3:0. Borussia müsste noch zwei Tore schießen, die Luft ist raus. Ray Clemence, der Torhüter von Liverpool, schlägt den Ball weit in die gegnerische Hälfte. Gladbachs Libero Wittkamp bekommt das Ding vor die Füße, läuft ein paar Schritte und drischt es dann in einer Mischung aus Pass und Befreiungsschlag flach Richtung rechter Seitenlinie.

Zunächst sieht es so aus, als könne Kalle Del'Haye den Ball noch erreichen, doch der Pass wird immer länger und länger, und der Rasen ist kein Golfplatz, also landet er im Aus. Ein Spieler von Liverpool wirft den Ball zu einem Mitspieler. Der passt zu seinem Torhüter. Der schlägt erneut ab, doch noch im Flug beendet der Schiedsrichter das Spiel. Liverpool hat das Finale erreicht, und Hans-Jürgen Wittkamp weiß in diesem Moment noch nicht, dass es eine halbe Ewigkeit dauern wird, bis ein Borusse wieder einen Ball in der Königsklasse berührt. Niemand weiß das.

37 Jahre später ist Hans-Jürgen Wittkamp 68 und Rentner. Er hat zwei kaputte Knie, nicht mehr ganz so viele Haare auf dem Kopf, ein Haus in Recklinghausen und überhaupt keine Erinnerung an diese Ballberührung. Dass er der letzte Borusse am Ball war, hat er nicht gewusst, bis ihm der Reporter davon erzählte. Zu sehen ist die Aktion in einem pixeligen Youtube-Video, die Übertragung des italienischen Senders Rai 2. Auch sonst sind seine Erinnerungen an das Spiel eher dünn. Es sollte ja eines wie jedes andere sein und nicht das letzte in der Königsklasse für Borussia bis 2015.

Das Hinspiel hatte Gladbach mit 2:1 gewonnen, doch wie immer gegen Liverpool reichte es am Ende nicht. "Wir hatten keine Chance, das Spiel lief in eine andere Richtung", sagt Wittkamp. Bereits in der siebten Minute schoss Liverpool das 1:0, nach 55 Minuten stand es 3:0. Das Ergebnis war keine Blamage, sagt er. Am nächsten Tag brachte sie der Linienflieger zurück nach Deutschland, und dann war auch gut. Immerhin spielte Borussia noch um die Meisterschaft mit.

Wer ist dieser Mann, der Geschichte schrieb, ohne es zu wissen? Sieben Jahre spielte Hans-Jürgen Wittkamp für Borussia, aber das Ruhrgebiet hat er nie dauerhaft verlassen. Er wächst im Gelsenkirchener Stadtteil Resse auf, fängt wie jeder Junge im Ruhrgebiet früh an, Fußball zu spielen. Er ist Stürmer, aber keiner, der durch die Mitte kommt, kein Flitzer. Er schließt die Realschule ab, wird Verwaltungsbeamter. Und beginnt 1967 bei Schalke 04. Bis ihn Weisweiler 1971 entdeckt, auf der Suche nach einem Ersatz für Peter Dietrich und Herbert Laumen, Offensivkräfte im Mittelfeld. Für 100 000 DM wechselt er an den Niederrhein.

Doch was sich Weisweiler so vorgestellt hat, haut nicht hin. Wittkamp ist einfach nicht der große Läufer. Durch einige Ausfälle wird er wie auch schon in Schalke weiter hinten eingesetzt, bis er schließlich auf der Position des Liberos landet, als Nachfolger von Klaus-Dieter Sieloff. Noch aus einem anderen Grund läuft es zu Beginn nicht so ganz rund für ihn. Die Vergangenheit holt ihn ein. Er gehört zu den Spielern, die sich beim Bundesliga-Bestechungsskandal 1971 schuldig gemacht haben. Wie fast alle Schalker nimmt er die versprochenen 2300 DM an, nachdem sie gegen den Geldgeber und Gegner Arminia Bielefeld mit 0:1 verloren haben. Wittkamp wird fast ein Jahr lang gesperrt und zahlt eine Geldstrafe von 10 000 DM wegen Meineids. Den Pokaltriumph gegen den 1. FC Köln 1973 verpasst er. Eine jugendliche Dummheit, sagt er heute über die Tat, "man müsste sich noch dreimal in den Arsch treten."

Danach aber ist er fester Bestandteil der vermutlich besten Borussia aller Zeiten. "Ich war zur richtigen Zeit auf der richtigen Position in der richtigen Mannschaft." Er wird dreimal deutscher Meister, einmal Uefa-Pokal-Sieger, steht im Landesmeister-Finale. Dass sie dort 1977 spielen, haben sie seinem kuriosen Tor im Halbfinalrückspiel gegen Kiew zu verdanken. Nach einem Freistoß steht er frei vorm Tor, doch er schießt einen Gegenspieler an. Als er schon ein Handspiel reklamiert, kommt eine Flanke auf ihn zu, er erwischt sie mit dem Kopf, mit dem Rücken zum Tor, und trifft zum 2:0. Es ist einer der wenigen Momente, in denen Wittkamp auffällt. Denn die Stars sind andere, Berti Vogts, Jupp Heynckes und Rainer Bonhof. Er ist Best of the Rest, sagt er. In seinen besten Zeiten verdient er 150 000 DM. Im Jahr. Inklusive Prämien. Es ist eine andere Zeit. Die Spieler werden noch nicht auf Schritt und Tritt überwacht, abends spielen sie Karten und rauchen.

Nach seiner letzten Ballberührung in der Königsklasse berührt Wittkamp bald auch zum letzten Mal für Borussia den Ball. Sein letztes Spiel gewinnt Borussia 12:0 gegen Dortmund. Danach hört Wittkamp auf. Sein Knie ist kaputt, er fühlt sich nicht mehr so richtig wohl in einer Mannschaft, die im Umbruch ist. Auch Jupp Heynckes und Hacki Wimmer hören auf, Rainer Bonhof wechselt zu Valencia. Es ist das Ende einer Ära.

Borussia bietet Wittkamp an, noch ein bis zwei Jahre dranzuhängen, aber er lehnt ab und wechselt zu den ambitionierten Amateuren der SpVgg Erkenschwick. Zur Ruhe setzen kann er sich noch nicht, das ist auch für langjährige Profis damals nicht drin. Nach einem kurzen Intermezzo als Zweithaar-Vertreter für den Hauptsponsor des Vereins fängt er in der Kreisverwaltung Recklinghausen an und landet bald im Umweltamt, Bereich "Widerrechtliche Abfallablagerung". Wenn jemand 100 Reifen im Wald ablädt, muss er den Täter finden. Mit 60 geht Wittkamp in Frührente.

Die nächste Ballberührung eines Borussen in der Königsklasse wird er am Dienstag auf Mallorca erleben. Dort hat er seit 14 Jahren ein Haus. Im Frühjahr und im Herbst ist er mit seiner Frau dort, im Sommer nutzen es die Kinder und Enkelkinder. Er wird er sich auf den Weg in eine Strandbude machen, weil er kein Pay-TV hat. Nicht in Spanien, nicht zu Hause. Dort schaltet er an Samstagen den Videotext ein, Seite 251. Wenn der erste Borusse den Ball berührt, wird er kurz daran denken, wer das 1978 zuletzt gemacht hat. Sicher ist: Viel spektakulärer als sein Pass wird es nicht sein.

(RP)
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