Borussia Mönchengladbach Selbst die Krise ist polyvalent

Mönchengladbach · Die Niederlage gegen den Hamburger SV hat negative Maßstäbe in der Ära Lucien Favre gesetzt: Die älteste Elf seit fünf Jahren verlor ein Heimspiel so hoch wie seit fünf Jahren nicht und hat damit so häufig hintereinander verloren wie seit fünf Jahren nicht.

Diese Teams starteten mit vier Niederlagen
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Diese Teams starteten mit vier Niederlagen

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Foto: dpa, a jai

1. Schlechte Vorbilder
Für die Borussia wäre es erstrebenswert, wenn folgende Bilanz in der "Zehn vom Niederrhein" nach dem Derby nicht schon wieder auftauchen würde: Die Mannschaft von Lucien Favre war die 44. der Bundesliga-Geschichte, die zum Saisonauftakt drei Spiele in Folge verlor. Am Freitag wurde sie dann die 15., die noch eine vierte Niederlage folgen ließ. Der VfB Stuttgart ist seit Samstag mit dabei, so dass zum dritten Mal in 53 Jahren gleich zwei Teams einen derart kapitalen Fehlstart hingelegt haben. Von ihren 13 Vorgängern stiegen fünf am Ende ab, höher als auf Platz 11 ging es nicht mehr. Als einziges Spitzenteam stürzte Schalke 04 im Jahr 2010 so ab — der Vizemeister der Vorsaison landete auf Platz 14.

2. Borussias Ü27
Favre hatte sich für eine Elf voller Polyvalenz und voller Erfahrung entschieden, die über weite Strecken auch agierte wie ein DFB-Team in einem Freundschaftsspiel gegen Australien in vorher nie da gewesener Zusammensetzung. Der Rechts- und Innenverteidiger Tony Jantschke spielte auf der Sechs, der zentrale Mittelfeldspieler Lars Stindl spielte auf der rechten Außenbahn und der Flügelspieler André Hahn agierte im Sturm. Mit einem Schnitt von 27,3 Jahren war es zudem die älteste Favre-Elf im 152. Bundesligaspiel mit Gladbach. Älter waren die Borussen zuletzt am 12. Dezember 2010 beim 0:3 gegen den SC Freiburg mit 27,6 Jahren.

3. Jantschke ist kein Sechser
Es fällt schwer, sich für eine Szene zu entscheiden, die die Lage beim VfL am besten versinnbildlicht. Aber die Wahl muss wohl auf Jantschkes Fehlpass vor dem 0:1 fallen, da Martin Stranzls Verletzung vor allem vor Tragik strotzt und natürlich nicht vor Verunsicherung. Vielleicht darf Jantschke künftig wieder ein vielseitiger Abwehrspieler sein. Sonst wäre er unter Umständen noch gefeiert wurden, wenn Gladbach mit ihm im Tor nach einer guten Leistung nur 0:8 verloren hätte. Auf der Sechs spielte Jantschke zum neunten Mal von Beginn an bei der Borussia. Nur einmal, beim 3:0 gegen Hertha 2014, ging die Mannschaft als Sieger vom Platz.

4. Sieben fehlen
Trotz all der Böcke und spielerischen Defizite sei natürlich nicht verschwiegen, welch ein Verletzungspech plötzlich über Gladbach hereingebrochen ist. So wird Favre in der Champions League beim FC Sevilla gleich auf sieben Kernspieler der Erfolgself aus der Vorsaison verzichten müssen: Die "zwei A-Nationalspieler" Max Kruse und Christoph Kramer fehlen permanent. Die Flügelzange Patrick Herrmann (elf Tore) und Fabian Johnson (keine Niederlage mit ihm in der Startelf) ist verletzt. Granit Xhaka, einer der besten Sechser der Bundesliga, ist noch einmal gesperrt. Alvaro Dominguez und Stranzl, potenziell eines der besten Innenverteidiger-Duos, fallen ebenfalls aus.

5. Ohne Konstanz geht nichts
Das ist für die Borussia nicht zu kompensieren. Die erfolgreichsten Favre-Teams in viereinhalb Jahren waren eingespielte Bollwerke mit angeschlossenem Kunstbetrieb. In der Relegationssaison änderte Favre seine Mannschaft in den letzten vier Spielen kein einziges Mal. 2011/2012 gab es in 14 Pflichtspielen von Oktober bis Februar elf Siege, zwei Unentschieden und nur eine Niederlage. Favre musste nur auf Sperren, Krankheiten und Verletzungen reagieren. Zwei Jahre später gab es im Herbst sechs Siege in Folge, fünfmal spielte dieselbe Elf. Und im Frühjahr, als die Borussia elf Ligaspiele lang ungeschlagen blieb, wurde die Rotation nach dem Europa-League-Aus heruntergefahren und nach dem Aus im DFB-Pokal völlig eingestellt.

6. Zu einfach
Doch selbst die personelle Inkonstanz kann nicht als 100-prozentige Erklärung für die individuellen Fehler dienen. Jantschkes Fehlpass war ein halbes Eigentor, das 0:3 fiel nach einem Abschlag von HSV-Keeper Jaroslav Drobny. Dass der Gegner an dieser Stelle zum ersten Mal im Text auftaucht, zeugt auch davon, dass die Hamburger mit geringem Aufwand einen deutlichen Sieg einfuhren. Unerklärlich ist es zudem, wie die Borussia seit Mai 2013 mehr als 200 Ecken erfolgreich verteidigen konnte, nun aber nach Bremen schon wieder ein Gegentor nach einer Ecke kassierte. Wieder war es keine raffiniert einstudierte Variante, sondern der denkbar einfachste Dreiklang Hereingabe-Kopfball-drin.

7. "Unfassbare Angst" in der "Birne"
So sind es nun nach vier Spielen bereits elf Gegentore, eins mehr als in der gesamten Rückrunde. Dass die Borussia damals einfach auf derartige Böcke verzichtet hat, ist die lapidare Diagnose. Dagegen bleiben die Ursachen schleierhaft. Sportdirektor Max Eberl sah am Freitag "unfassbare Angst" bei den Spielern, was mit akribischer Arbeit an Fußstellungen nicht zu beheben sein wird. Man darf gespannt sein, wie Favre mit den mentalen Defiziten seiner Mannschaft umgehen wird.

8. Maßstäbe gesetzt
Nicht nur vier Pleiten in Folge sind ein Negativrekord in der Favre-Ära. Auch eine Heimniederlage mit drei Toren Unterschied ist ein Novum. Einen Zwei-Tore-Rückstand im eigenen Stadion zur Pause hatte es in der Bundesliga zuletzt am 23. Januar 2011 beim 1:3 gegen Bayer Leverkusen gegeben, einen Drei-Tore-Rückstand am 23. Oktober 2010 beim 1:4 gegen Werder Bremen. Die Borussia steckt in einer Krise wie zu Frontzecks Zeiten und absolviert am Dienstag das erste Champions-League-Spiel ihrer Historie.

9. Tiefpunkt vom Tiefpunkt
Beinahe hätte der Anpfiff nach hinten verschoben werden müssen, weil die Fans bei der Mannschaftsaufstellung die Nummer 39 wie nie zuvor zelebrierten. Nachdem Martin Stranzl gegen 21.50 Uhr in stabiler Seitenlage direkt in den Rettungswagen getragen worden war, herrschte dagegen beklemmende Stille im Borussia-Park. Mit einem Augenhöhlenbruch fällt der Österreicher sechs bis acht Wochen aus. Es empfiehlt sich, nicht nach "Orbitaboden" zu googeln.

10. Zurück im Normalzustand
Das Pfeifkonzert zur Pause war weitaus lauter als das nach dem Schlusspfiff. Was nicht nur daran lag, dass das Stadion sich bereits geleert hatte, sondern auch für die große Ernüchterung im Borussia-Park stand. Emotional fühlen sich viele Fans bereits in den Normalzustand der 16 Jahre nach dem Pokalsieg 1995 versetzt. Und wenn die große Wende doch ganz schnell kommen sollte, vielleicht schon im Derby gegen den 1. FC Köln, kann man sich ja immer noch verwundert die Augen reiben und so tun, als hätte man das nicht mehr für möglich gehalten. Der Gladbacher erträgt die momentane Situation vor allem — auch wenn am Freitag in der Altstadt alkoholhaltige Hilfsmittel angepriesen wurden:

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