Taktikanalyse Der Spielaufbau ist Borussias unterschätzte Waffe

Taktikexperte Tobias Escher beschreibt, wie Trainer Dieter Hecking die Stärken des Kaders zur Geltung bringt – mit deutlich mehr Lucien Favre als André Schubert.

 Jannik Vestergaard und Matthias Ginter sorgen für einen gepflegten und geduldigen Spielaufbau.

Jannik Vestergaard und Matthias Ginter sorgen für einen gepflegten und geduldigen Spielaufbau.

Foto: dpa, gki gfh

Taktikexperte Tobias Escher beschreibt, wie Trainer Dieter Hecking die Stärken des Kaders zur Geltung bringt — mit deutlich mehr Lucien Favre als André Schubert.

Heutzutage wechseln Bundesliga- Vereine ihre Trainer schneller als manche Formel-Eins-Teams ihre Reifen. Mit dem Trainer ändert sich meist auch die Taktik. Nur wenigen Klubs gelingt es, langfristig einen Spielstil zu prägen. Borussia Mönchengladbach gehört zu den wenigen Teams, über die sich sagen lässt: Es gibt sie, die typische Gladbach-Taktik!

Lucien Favre installierte diesen Spielstil, als er den Verein vor dem Abstieg rettete. In Ermangelung klassischer Strafraumstürmer ließ er mit zwei beweglichen Spitzen spielen. Diese sollen sich innerhalb des 4-4-2-Systems viel bewegen und häufig zurückfallen lassen. Gegen den Ball zeichnete Favres Gladbacher eine hohe Kompaktheit aus, zwischen Abwehr- und Mittelfeldlinie passte kein Blatt Papier, geschweige denn ein gegnerischer Angreifer.

Sobald der Ball gewonnen wurde, ging es schnell. "Klatsch-und-Pass" lautete der taktische Leitspruch, der in Gladbach kreiert wurde: den Ball vertikal nach vorne passen, dort legt ein Stürmer den Ball auf den nachrückenden Mittelfeldspieler ab — "klatschen lassen" in der Fußballersprache. Danach wird der Ball sofort wieder nach vorne gepasst — "Klatsch-und-Pass" eben.

Dieter Heckings wohl größte Errungenschaft in der vergangenen Rückrunde war es, dieses System wieder auszugraben. Unter André Schubert waren die typischen Gladbacher Stärken — hohe Kompaktheit, die Beweglichkeit der Stürmer — verloren gegangen. Im neuen, alten System zeigte Gladbach wieder mehr Zug zum Tor, konnte zudem auf das perfekt harmonierende Sturmduo Lars Stindl und Raffael bauen.

Trainerveteran Hecking hat jedoch auch einige Neuerungen mitgebracht. Gladbach verteidigt mannorientierter, das heißt, die Verteidiger verfolgen ihre Gegenspieler eher, als den Raum zu decken. Diese Spielweise ist noch immer stärker am Raum orientiert als unter Vorgänger Schubert, der auf rigorose Manndeckungen setzte; allerdings weniger raumorientiert als unter Favre. Zudem fokussieren Heckings Gladbacher stärker das Flügelspiel. Die Außenstürmer orientieren sich an der Auslinie und ziehen nur selten in die Mitte. Häufig versucht Gladbach, auf einem Flügel eine Überzahl zu schaffen und von dort aus an die Grundlinie zu gelangen. Die flachen Hereingaben sollen entweder die Stürmer oder die nachrückenden Mittelfeldspieler verwerten.

Die nachrückenden Läufe aus dem Mittelfeld soll vor allem Zugang Denis Zakaria beisteuern. Er überzeugte in den Testspielen als dynamischer und aggressiver Sechser. Christoph Kramer kann dadurch eine spielgestaltendere Rolle übernehmen. Der zweite wichtige Zugang, Matthias Ginter, fügt sich nahtlos in den flachen Spielaufbau der Fohlen ein. Der Spielaufbau ist ohnehin eine der unterschätzten Waffen der Gladbacher: Dank ihres spielstarken Mittelfelds und den sich ständig zurückfallenden Stürmern gibt es im Aufbau viele Wege nach vorne. Die Verteidiger warten geduldig, bis sich die Möglichkeit für das Spiel nach vorne ergibt. Gladbach dürfte auch in der neuen Saison in vielen Spielen ein Ballbesitzplus haben.

Hecking möchte in der neuen Saison auch mit neuen Stärken punkten: In der Vorbereitung hat er einige Alternativsysteme eintrainieren lassen. Gerade gegen übermächtige Gegner wie die Bayern könnte ein 5-3-2-System zum Einsatz kommen. Hierbei sichert eine Dreifach-Sechs vor einer Drei- Mann-Innenverteidigung ab, die Kontrolle über das Zentrum ist dementsprechend hoch. Auch ein 4-3-3-System ist möglich. Traditionell flexibel ist Heckings Trainerteam auch bei den Standards. Es lässt sich viele Varianten einfallen. Mit Vincenzo Grifo hat Gladbach einen starken Standardschützen verpflichtet. Gegnerische Standards verteidigt Gladbach in einer Manndeckung.

Aus taktischer Sicht war die Vorbereitung jedoch nicht nur eitel Sonnenschein. Gladbach verteidigt zwar kompakt, lässt dabei aber manchmal den Druck auf den Gegner vermissen. Leicester City hebelte beim 2:1-Testspielsieg mit einem langen Ball auf Jamie Vardy die hochstehende Gladbacher Abwehr aus. Bei Heckings vergangenen Stationen wurde zudem mit der Zeit der Fokus auf Flügelangriffe problematisch. Viele Gegner stellten sich darauf ein, indem sie Heckings Teams Pressingfallen auf den Flügeln stellten.

Das vielleicht größte Fragezeichen: Das Gladbacher Spielsystem baut stark auf den Stärken einzelner Spieler auf. Für Raffael und Stindl gibt es allenfalls Thorgan Hazard als halbwegs gleichwertigen Ersatz, Kramers Rolle als spielstarker Sechser ist kaum zu ersetzen, die Offensivläufe von Linksverteidiger Oscar Wendt ebenso wenig. Bislang gibt es aber keinen taktischen Plan B, mit dem man diese Spieler ersetzen könnte. Wenn sich die Schlüsselspieler verletzen, droht ein ähnlich tristes Szenario wie in der vergangenen Hinserie.

Momentan sind aber alle wichtigen Spieler an Bord. Heckings Team wird versuchen, oben anzugreifen. Mit einer großen Portion Gladbach-Stil und einer kleinen Prise Hecking.

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