Borussia-Fan Wolfgang "Wolle" Großmann Der Mann, der den Fußball zu sehr liebt

Mönchengladbach/Dresden · Für seine Inbrunst wird Wolfgang "Wolle" Großmann (60) von anderen Gladbach-Fans geschätzt. Doch seine große Schwäche für die Borussia machte ihn als jungen Mann zum Staatsfeind in der DDR - und kostete ihn auch seine Ehe.

Wir sind Helden: "Wolle" Großmann posiert zwischen Bronzestatuen der Borussia-Größen Herbert Wimmer, Berti Vogts und Günter Netzer vor der Fankneipe "Alt Eicken".

Wir sind Helden: "Wolle" Großmann posiert zwischen Bronzestatuen der Borussia-Größen Herbert Wimmer, Berti Vogts und Günter Netzer vor der Fankneipe "Alt Eicken".

Foto: Robert Eickelpoth

Im Gladbacher "Fanhaus" hängt eine große Deutschlandkarte mit Abzeichen der Fanclubs, von den Nordsee-Borussen bis hin zu den Isarfohlen München, und die Decke zieren Schals befreundeter Anhänger aus Barcelona, Birmingham, Bologna. Doch keiner dieser Orte ist so weit entfernt, wie es Wolfgang "Wolle" Großmann war in den sechziger und siebziger Jahren und der ersten Hälfte der Achtziger, beinahe ein Vierteljahrhundert lang. In Dresden. Hinter dem Eisernen Vorhang.

Als der Autor Alex Raack im Fanhaus sein Buch über Wolles Leben vorstellt, überreicht dieser der Witwe seines besten Freundes ein Exemplar. "Das ist auch sein Buch und dein Buch", sagt er mit erstickter Stimme. "Es ist unser Buch."

 Zwei wie Pech und Schwefel: Wolfgang "Wolle" Großmann und sein bester Freund "Botte" bei der Gründung ihres Bundesliga-Fanclubs 1981 in Dresden.

Zwei wie Pech und Schwefel: Wolfgang "Wolle" Großmann und sein bester Freund "Botte" bei der Gründung ihres Bundesliga-Fanclubs 1981 in Dresden.

Foto: Großmann

Aufgewachsen hinter der Mauer

Der Mann, der seinen sächsischen Dialekt nie abgelegt hat, ist 1957 in Rheindahlen geboren, ein paar hundert Meter neben dem heutigen Gladbacher Stadion. Doch als er zwei Jahre alt ist, ziehen seine Eltern in die Heimat seines Vaters, nach Weistropp bei Dresden. Kurz nach seinem vierten Geburtstag beginnen die Arbeiten an der Mauer, die zu bauen angeblich niemand die Absicht gehabt hatte.

Ein Jahrzehnt in körperlich spürbarer Unfreiheit geht nicht spurlos an "Wolle" vorbei - zumal er häufig West-Fernsehen sieht und bei jedem Verwandtenbesuch West-Produkte zugesteckt bekommt: Schokolade ist dabei, aber auch ein Schal mit der Borussia-Raute. Der Bökelberg wird sein Sehnsuchtsort, die Borussia sein Verein, Günter Netzer und Co. seine Helden. Nicht nur die Endergebnisse, auch das kleinste im West-Radio genannte Detail notiert er säuberlich in einem Büchlein - bis hin zur Zuschauerzahl.

Im Blick von Polizei und Stasi

Als Jugendlicher nutzt er den Fußball zum Frustabbau, mit Bier, Schnaps und Schlägereien. Polizei und Stasi haben ihn im Blick. "Man wusste nie, ob man wieder nach Hause kommt zu Frau und Kind", sagt er dazu leise. Verhöre gab es, Auflagen, auch diverse Knast-Aufenthalte.

Aber für Wolle geht die Rechnung unterm Strich auf - so viel gibt ihm der Fußball. 1980 bekommt der Fan seinerseits Fanpost von Borussia-Präsident Helmut Beyer. Als Gladbach 1981 im Uefa-Cup auf Magdeburg trifft, fährt Wolle mit seinem besten Freund Botte schon am Sonntag vor dem Mittwochsspiel hin und bedenkt die Hotelangestellten großzügig mit Trinkgeld. So landet er im Zimmer der Spieler Lothar Matthäus und Armin Veh, die ihn nach einer Schrecksekunde über das Leben in der DDR ausfragen.

Getarnt als Taubenzüchter

Zur gleichen Zeit tut sich Wolle mit einem Häuflein anderer Verrückter zusammen. Sie alle sind Fans des Serienmeisters Dynamo Dresden - aber jeder hat auch einen West-Lieblingsverein. Michael hält zu Köln, Uwe zu Schalke, und Wolle hält die Fahne der Fohlen hoch. Sie tarnen sich als Taubenzüchter, doch die Stasi kommt ihnen schnell auf die Spur. In den komplett unpolitischen Bundesliga-Fanclub schleust der Geheimdienst bald Spitzel ein und löst ihn schließlich ganz auf.

Doch Wolle lässt sich nicht einschüchtern - und gründet den Gladbach-Fanclub "Mönche Dresden-Weimar". Als Reaktion wird seine Verlobte strafversetzt und gemobbt, doch Wolle trägt sein Fantum weiter offen zur Schau. Dass er so hoch pokert, zahlt sich aus: Am 14. Februar 1985 wird sein Ausreiseantrag genehmigt; gemeinsam mit seiner Kony und ihrem kleinen Sohn Daniel darf er ausreisen. "Da war ich natürlich hin- und hergerissen", sagt Großmann. "Ich wusste, ich komme nach Hause, nach Gladbach, zur Borussia. Aber dafür muss ich Eltern und Geschwister zurücklassen." Als Abschiedsgruß brüllt er aus dem Zugfenster in die Nacht "Borussia! Borussia!"

"Seine Familie hat gelitten"

Einen Tag später sieht er, als temporär Staatenloser, Gladbach in Solingen kämpfen und siegen. Spätestens beim Pokalgewinn 1995 scheint die Geschichte ein Happy End zu haben, ohnehin kursieren bei diesem Wiedersehen viele Abenteuergeschichten von Schlachten aller Art auf Fußballplätzen und in Diskotheken. Der Journalist Raack (34) beschränkt sich nicht auf wohlig-warme Fußballromantik. "Es gibt so viele alte Borussia-Verknallte", sagt er. Doch Wolle, dem Beklopptesten von allen, fehle die Bremse. "Seine Geschichte ist eine von Freiheit und Freundschaft. Aber seine Familie hat darunter gelitten."

Großmann bestätigt das. "Ich habe die Hosen runtergelassen", sagt er über das Buch, in dem Raack auch die tiefsten Tiefen von Wolles Privatleben beschreibt. "Als Entschuldigung an alle, die ich vernachlässigt und verletzt habe, weil ich nur die Borussia im Kopf hatte." Gemeint ist vor allem seine Ex-Frau Kony. "Ich war so oft beim Spiel", murmelt er. "Liga oder Pokal, daheim oder auswärts. Habe sie nur angerufen, wenn sie mich aus der Kneipe abholen sollte. Sie war so oft alleine, weil ich sie alleingelassen habe." Die Reue ist echt, aber sie kommt zu spät. Zumindest für ihn.

Ob andere etwas aus seiner Geschichte lernen können? Heftiges Kopfnicken. Dann spricht er aus, was ihm bislang wie Ketzerei vorkam: "Fußball ist eben nicht alles."

(tojo)
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