Choreografien und Stimmung Der Fußball lebt von der Faszination Fankurve

Düsseldorf · Das Stadion ist ein Ort kollektiver Begeisterung. Wie in einer Art modernem Tempel zelebrieren Menschen dort ihre Religion Fußball. Oft inszeniert sich das Publikum dabei selbst – vor allem durch Choreografien, wie am Samstag in Mönchengladbach.

Bundesliga 13/14: Borussias tolle Fan-Choreo
10 Bilder

Bundesliga 13/14: Borussias tolle Fan-Choreo

10 Bilder

Das Stadion ist ein Ort kollektiver Begeisterung. Wie in einer Art modernem Tempel zelebrieren Menschen dort ihre Religion Fußball. Oft inszeniert sich das Publikum dabei selbst — vor allem durch Choreografien, wie am Samstag in Mönchengladbach.

Gänsehautstimmung vor dem Anpfiff. Die Teams laufen ins Stadion ein. Aus den Lautsprechern ertönt Musik, die jeder schon tausendmal gehört hat. Auf ein Kommando erheben sich 10.000, 20.000, 30.000 Hände in den Himmel. Buntbemalte Pappen und meterlange Banner zieren den Fanblock, die riesige Tribüne gleicht einem Meer aus Schals. Die Kunst in der Kurve stimuliert ein Raunen, wie es sonst nur der Geniestreich der Spieler auf dem Feld vermag. Die Masse brüllt. Die Inszenierung ist gelungen.

Aus der Menge wird ein Ganzes

Nirgendwo versetzen sich so viele Menschen gemeinsam in eine Euphorie wie im künstlichen Hexenkessel eines Stadions. In einem modernen Tempel zelebrieren sie ihre Religion Fußball, werden zu einer Gemeinde. Durch das gemeinschaftliche Erlebnis wird aus der Menge ein Ganzes. Die Masse macht den Einzelnen stark. In einer Gesellschaft, die den Individualismus über alles stellt; in der es fast schon zum Zwang wird, ein Individuum zu sein. Eine gelungene Fan-Choreografie bedeutet die Aufhebung vieler Schranken. Soziale Faktoren wie Geschlecht, Einkommen oder Herkunft verschwinden. Für 90 Minuten.

In der Bundesliga gibt es die Kunst in der Kurve seit Mitte der 1990er Jahre. Als Choreografie-Pioniere bastelten die Fans des FC Bayern München erstmals bunte Banner. Höhepunkt: die rot-weiß eingefärbte Tribüne im Champions-League-Finale 2001 in Mailand mit dem Wunsch: "Heute ist ein guter Tag, um Geschichte zu schreiben." Die Bayern gehorchten und besiegten Valencia. Neun Jahre später feierten die Fans von Borussia Mönchengladbach das 110-jährige Bestehen ihres Vereins mit einer großen Choreografie. Zu den Klängen des Fan-Liedes "Die Seele brennt" wurden beim Einmarsch der Mannschaft gigantische Banner auf der Südtribüne ausgerollt. Motto der Aktion: "So ist es schon seit Opas Zeit. Schwarz-weiß bis in die Ewigkeit."

Vor dem Play-off-Spiel in der Champions League im August 2012 zog sich eine Choreo durch den gesamten Borussia-Park, der in Schwarz, Weiß und Grün erstrahlte. Und schließlich am Samstag gegen Werder Bremen legten die Gladbacher nach. "Eine Zahl, die uns zusammenhält — In Europa und auf der ganzen Welt" stand auf riesigen Bannern, mitten in der Nordkurve dann jene Zahl, die zusammenhält, "Neunzehnhundert", das Gründungsjahr der Borussia.

Eine Skyline aus Pappe

Doch auch in jüngster Vergangenheit gab es Inszenierungen, die im Kopf hängen geblieben sind: Beim Champions-League-Rückspiel von Borussia Dortmund gegen den FC Malaga baute sich ein gigantischer BVB-Fan mit Fernglas vor der Fankurve auf — über einem Banner mit dem Text "Auf den Spuren des verlorenen Henkelpotts." 15.000 Papptafeln, wochenlange Malarbeiten und 6000 Euro an Materialkosten flossen in das Projekt. Und erst am vergangenen Sonntag erstreckte sich in Düsseldorf anlässlich des 725. Geburtstags der Stadt eine Skyline aus Pappe über die gesamte Südkurve des Stadions. Fast 2500 Arbeitsstunden und rund 6500 Euro war den Düsseldorfer Fans das prächtige Farbenspektakel in den Vereinsfarben Weiß und Rot wert.

Der Ursprung dieser Inszenierungen auf den Tribünen liegt in Italien. Ende der 1960er Jahre war einigen Präsidenten italienischer Fußballvereine die Unterstützung der Fans nicht extrem genug. So entstand der Impuls für die Gründung der Ultra-Bewegung, einer der einflussreichsten Subkulturen Europas. Erst besonders kreative und provokante Kurvenshows, treibende Parolen und das einheitliche Klatschen und Stampfen Tausender machen das Aufeinandertreffen zweier Mannschaften für diese Fangruppe zu einem guten Spiel — oft unabhängig von der Leistung ihres Teams. Und so geht es heute nicht mehr nur darum, Fußball zu schauen, sondern auch darum, sich selbst dabei zu beobachten und sehen zu lassen.

Dabei wollen Ultras mehr als nur Kulisse sein. Sie verstehen sich als Stachel im Fleisch des modernen Fußballs, als Gegenpol zum Kommerz. Es ist kein Zufall, dass sie Mitte der 1990er Jahre in Deutschland auftauchten, als aus Stadien Arenen wurden, mit Logen, VIP-Bereichen und Tiefgaragen. Mittlerweile hat fast jeder Verein von der Bundes- bis zur Regionalliga eine derartige Szene. Ultras, das sind Elite-Anhänger. Sie definieren sich als dynamisches Gegenereignis zum passiven Zuschauer, der allenfalls bei einer LaOla mal kurz vom Sitzplatz aufspringt. Ihre Hingabe zum Fußballklub ist rückhaltlos, ein Lebensgefühl, dem alles andere untergeordnet wird. Der Verein ist ihr Lebensinhalt. Doch ihr Image leidet. Ausschreitungen und Drohungen gegen Spieler haben ihren Ruf in Mitleidenschaft gezogen. Wer im Internet nach Bildern von Ultras sucht, stößt auf von Handfackeln erleuchtete Fankurven und vermummte Stadionkrieger. Oft werden sie mit Hooligans gleichgesetzt — mit Schlägerbanden also, die nur ins Stadion gehen, um sich zu prügeln. Die Ultras sehen sich dagegen als Bewahrer "echter Fankultur".

Organisiert über das Internet

Doch auch in ihren Strukturen geht es um Macht. Wer in der internen Hierarchie aufsteigen will — Zeremonienmeister ist der sogenannte Capo (Chef), der mit dem Rücken zum Spielfeld die Menge dirigiert — investiert viel Zeit, um Choreografien einzuüben, Transparente und Fahnen zu basteln. Organisiert werden diese Aktionen in der Regel über das Internet. Ist eine Idee gefunden, wird der Verein informiert. Er genehmigt die Motive und überprüft die Einhaltung des Brandschutzes. Bei internationalen Spielen tritt die Europäische Fußball-Union (Uefa) als Veranstalter auf. Für die Choreografen geht es dann an die Arbeit: Es wird minutiös geplant, Stoff zerschnitten, Material ausgemessen. Alles für die Show während des Spiels, für 90 Minuten Volldampf-Unterstützung. Am Spieltag wird das Kunstwerk ins Stadion gebracht, die Fans werden eingeweiht. Denn in besonders gelungenen "Choreos" halten alle Anhänger eines Vereins Papiere, Fahnen oder Banderolen in die Höhe, um zum Beispiel ein gigantisches Vereinswappen zu bilden. Die oft hohen Materialkosten von bis zu 10.000 Euro finanzieren die Ultras selbst: aus Mitgliedsbeiträgen oder mit Hilfe von Spenden.

Die Meinungen zu den Shows sind geteilt: Während einige die Choreografien als kreativ bezeichnen, vergleichen andere sie mit der Ästhetik nordkoreanischer Feierlichkeiten. Moniert wird auch, dass die Spontaneität starren Ritualen gewichen sei: "Nicht selten spulen Ultras unabhängig vom Spielverlauf ihr Programm herunter und lassen sich, polemisch formuliert, nur höchst ungern von Toren unterbrechen", findet "11-Freunde"-Chefredakteur Philipp Köster. Der Sportphilosoph Gunter Gebauer bezeichnet Fußball gar als "Massentheater", das von den Veranstaltern durchchoreografiert wird: "Wo Fans instruiert werden, wie sie sich zu verhalten haben, ist das Geschehen so spontan wie die Reaktionen eines Fernsehpublikums."

Kein Wunder: Längst sind Stadien zu Versammlungsorten für Massen geworden, die nach monetären Gesichtspunkten zusammengebracht werden. Sie tragen die Namen der Klub-Sponsoren, während die Deutsche Fußballliga (DFL) den Spielplan zerstückelt, um die Interessen von TV-Sendern zu befriedigen. Die Ultras verpassen diesem kommerziellen Spektakel mit ihren Choreografien den letzten Schliff. Die Fan sehen das anders. "Ich beziehe meine Identität als Fan aus der lebenslangen Bindung an den Fußball und meinen Klub", heißt es. Nichts könne diese Zuneigung erschüttern: keine Niederlage, kein Abstieg, keine Ehekrise. Manchmal aber eben auch keine Pöbel-Gesänge gegen die Polizei, kein unkontrollierter Einsatz von bengalischen Feuern oder keine handfeste Auseinandersetzungen mit den Ordnungskräften. Und so sind die Ultras für viele Zuschauer ein Bespaßungsfaktor auf einer Bühne, die sich Stadion nennt. Musik, Show, Choreografien - der Fußball nähert sich dem Theater an. Und das Volk will Brot und Spiele.

(seeg)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort