Bauchgefühl statt Datenwust Entscheidend is' immer noch auf'm Platz

Frankfurt/M. · Die Wissenschaft hat festgestellt: Fußballtrainer sollten viel mehr Bauchentscheidungen treffen und sich nicht vom Wust der Daten zu sehr beeinflussen lassen.

EM-Kader 2016: Joachim Löw hat sich entschieden
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Joachim Löws EM-Kader

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Es war einmal ein Wissenschaftler, der hatte eine tolle Idee. Sie ging ungefähr so: Man muss nur genügend Daten erheben, und schon hat man den perfekten Fußballer, die perfekte Fußballmannschaft und (natürlich) den perfekten Fußball. Der Mann lebte zu Anfang unseres Jahrhunderts, und er hatte viele Anhänger. Neuerdings ist er mächtig entzaubert. Daran sind andere Wissenschaftler schuld. Ausgerechnet solche, die auch im Auftrag des Deutschen Fußball-Bundes am Lieblingssport der Deutschen herumforschen. Zum Beispiel der Psychologie-Professor Gerd Gigerenzer vom Max-Planck-Institut. Er hielt beim Wissenschaftskongress des DFB in Frankfurt am Main ein amüsantes und berechtigtes Plädoyer für die Bauchentscheidung, vornehmer ausgedrückt: die Intuition. Der Fußball, sagte Gigerenzer, ist so schnell, dass er geradezu nach intuitiven Entscheidungen verlange. "Und hier handelt es sich nicht um eine göttliche Eingebung, sondern um gefühltes Wissen, das stark genug ist, danach zu handeln."

Der DFB ist auf der Höhe der Zeit, weil er Führungspersonal beschäftigt, das sich offenbar an solchen Leitsätzen orientiert. Bundestrainer Joachim Löw hat Anfang des Jahres festgestellt: "Das einzig Unberechenbare im Fußball ist der Ball - und Jogi Löw." Er hätte sich auch auf Sepp Herberger berufen dürfen. Von dem stammt der unsterbliche Satz: "Der Ball ist rund."

Dennoch fing mit Herberger an, was die Wissenschaftler der Neuzeit bis an den Rand des Irrsinns betreiben: das Erheben von Daten, die Unterstützung der Trainerarbeit durch Pläne, detaillierte Anweisungen an Spieler, die sich bis in deren Freizeit erstreckten. Dass trotzdem Helmut Rahn das WM-Finale 1954 entschied, ein Spieler, der von Vorschriften so wenig hielt wie von alkoholfreien Getränken, ist nur ein weiterer Hinweis darauf, dass nicht alles steuerbar ist.

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Das müssen moderne Trainer begreifen. Für sie ist das noch schwieriger als für die Generation der Herberger-Nachfolger, von denen die meisten in dem festen Glauben an die Improvisation aufgewachsen waren. Der legendäre Dortmunder Spieler Adi Preißler hat das in den 50er Jahren in die treffende Bemerkung gegossen: "Grau, mein Freund, ist alle Theorie. Entscheidend is' auf'm Platz."

Er meinte damit ganz sicher weniger den Trainingsplatz, dessen Bedeutung bis in die 80er Jahre zu vernachlässigen war. Dort wurde wild experimentiert, nicht selten allein nach den Vorstellungen, die der Trainer bei seinen Trainern erlernt hatte und die er einigermaßen nachvollziehbar fand. Der erste große Einschnitt ins Trainerwesen war die Einführung von ganzen Trainerteams. Dem Co-Trainer, dessen erste Aufgaben in den frühen Jahren im Aufstellen von Hütchen, Herbeischaffen ausreichend aufgepumpter Bälle und der gelegentlichen Arbeit mit den Torhütern bestand, wenn der Chef dazu keine Lust hatte, folgte eine Truppe von Spezialisten. Torwarttrainer, Athletiktrainer, Physiotherapeuten, Sprinttrainer, Rehatrainer, Ärzte, Scouts, Videoanalysten. Neben dem Platz ist häufig mehr Gedränge als auf dem Rasen. Das verdankt sich dieser neuzeitlichen Einsicht: Vorentscheidend is' auf'm Trainingsplatz.

Das Training wurde zur arbeitsteiligen Angelegenheit. Der Gipfel dieser Entwicklung ist noch nicht erreicht, auch wenn es vielleicht nicht ganz so unterhaltsam wird wie im American Football. Hansi Flick, der als Löws rechte Hand Weltmeister in Rio wurde, hat sich als DFB-Sportdirektor jüngst bei den San Francisco 49ers umgesehen, wo es natürlich eigene Betreuer für die Defensive, die Offensive und die Kicker gibt. Jeder weiteren kleinen Aufgabe widmet sich ein Spezialist. Und im American Football gibt es viele Aufgaben.

Besonders beeindruckend fand Flick die bildliche Aufbereitung. Bei jedem Training verfolgen Kameras von Kränen dynamisch die Aktionen der Spieler. So werden Laufhaltungen, Fußbewegungen und taktische Ordnung aus allen Winkeln nachvollziehbar. "In Echtzeit", wie Flick staunend feststellte. Die erste Miniaturkopie solcher Trainingsüberwachung gab es im Campo Bahia in Brasilien 2014, wo ebenfalls Kameras aus erhöhter Position jede Übung aufnahmen.

Das ist aber nicht das Ende der Fahnenstange. Inzwischen arbeitet die Fußball-Wissenschaft an dem Versuch, Kreativität und Intuition regelrecht zu programmieren. Das klingt nur paradox. Die Wissenschaftler sind überzeugt davon, dass die besten Sportler deshalb die besten Entscheidungen aus dem Bauch heraus treffen, "weil sie die Situation auf einfache Regeln reduzieren können", wie der Professor Gigerenzer in Frankfurt erklärte. Trainer müssen solche Vereinfachungen anbieten, und sie selbst müssen ein Gefühl für Situationen entwickeln. Dabei helfen ihnen Erfahrung und die Fähigkeit, den Datenwust, mit dem schon Fernsehsender bei ihren Übertragungen die Kundschaft überziehen, zu vernachlässigen. Und sie brauchen Mut. "Wenn Trainer und Spieler Ihrer Intuition nicht mehr vertrauen, ist der Effekt fatal", sagte Gigerenzer.

Für diese Behauptung muss er sich nicht mal auf Daten stützen. Er zitierte lediglich den Jahrhundert-Torjäger Gerd Müller. "Wenn's nachdenkst, bist's eh verloren", hat der gesagt. Und wenn Jogi Löw im WM-Finale vor der Einwechslung von Mario Götze nachgedacht hätte, wäre ihm kaum das goldene Wort eingefallen: "Zeig der Welt, dass du besser bist als Messi." Er hat es aber gesagt, und Götze hat wahrscheinlich geglaubt, dass er das zeigen kann. Und wenn er erklären müsste, wie er das entscheidende Tor gegen Argentinien geschossen hat, würde er über zwei, drei Äußerlichkeiten nicht hinauskommen. Er schoss das Tor mit dem Gefühl für den Augenblick und weil Kopf und Körper wussten, wie das geht. Entscheidend is' eben doch auf'm Platz.

(pet)
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