Fußball-Legende im Interview Netzer: "Gladbach hat die Chance auf die Champions League"

Düsseldorf · Aus den Fenstern im 18. Stock des Vodafone-Hauses am Düsseldorfer Seestern hat man einen grandiosen Blick über die Stadt. Hier treffen wir Günter Netzer (70), der gerade seinen Vertrag als Werbepartner mit dem Unternehmen Otelo verlängert hat. Netzer muss für Fotos posieren, er wird bestaunt, der Sicherheitsmann zeigt ihm Werbekarten. Netzer erledigt alles mit großer Geduld und einem leisen Lächeln. Der ehemalige Fußballstar, Manager und TV-Experte ist immer noch im Geschäft, als einer der Direktoren des Schweizer Sportmarketingunternehmens Infront.

 Günter Netzer im Interview mit den RP-Redakteuren Robert Peters und Thomas Schulze.

Günter Netzer im Interview mit den RP-Redakteuren Robert Peters und Thomas Schulze.

Foto: Andreas Endermann

Sie haben das Bundesliga-Spiel zwischen Ihrem alten Klub und Bayern München verfolgt, was sagen Sie zur der Entwicklung bei Borussia Mönchengladbach?

Netzer Da kann ich nur Bewunderung aussprechen, das verfolge ich mit großer Begeisterung. Ich sage aber auch gleichzeitig: Es muss jetzt geschafft werden, das für die Saison zu erhalten. Es darf nicht wieder derartige Rückschläge geben, die dieses in Frage stellen. Die Gladbacher haben durchaus die Möglichkeit, einen Champions-League-Platz zu erreichen, wenn sie diese Leistung stabilisieren, Sie müssen ihre Ziele gar nicht erst reduzieren. Das ist nichts, was utopisch ist. Man sieht die Konkurrenz, und da ist man durchaus wettbewerbsfähig.

Ist es nicht seltsam, dass sich eine Spitzenmannschaft für ein Heimunentschieden gegen die Bayern feiert?

Netzer Das finde ich in Anbetracht von Bayern München nicht so besonders, denn sie beweisen von Woche zu Woche, was sie für eine großartige Mannschaft sind. Sie lassen sich nicht dafür feiern, dass sie diese großartigen Spieler und diesen großartigen Trainer haben. Sie beweisen es Woche für Woche. Das ist für mich das einzige Kriterium.

Was kann die Bundesliga tun, um den Abstand auf die Münchner zu verkürzen?

Netzer Das ist nicht auf Knopfdruck zu machen. Wenn Sie sehen, was Dortmund für Schwierigkeiten hat, die einzige Mannschaft, die ausersehen war, den Bayern Paroli zu bieten, dann ist es bei den anderen noch unwahrscheinlicher, dass sich das innerhalb der nächsten fünf Jahre verändert. Die Bayern leben ja nicht erst seit diesem Jahr auf diesem Niveau, das haben sie sich erarbeitet.

Was ist denn mit Dortmund in der Bundesliga los?

Netzer Das versteht eigentlich keiner. Das beste Zeichen ist, dass die Dortmunder es selbst nicht verstehen. Dieses ist aber innerhalb kürzester Zeit zu revidieren. Ich sehe, dass die Mannschaft charakterlich in Ordnung ist. Dass sie viele Verletzte hat, und was die Weltmeisterschaft für einen Einfluss hat, das kann ich schon fast nicht mehr hören. Wir haben beinahe Weihnachten, und Verletzungen gehören dazu. Das wird überwunden irgendwann. Ich glaube, dass sie eine Serie starten, die sie wieder heranbringt. Unwahrscheinlich, dass sie die Bayern noch gefährden können im Kampf um den Titel. Aber ich glaube, dass sie in der Lage sind, die anderen noch in Schach zu halten.

Auch Mönchengladbach?

Netzer Die Dortmunder haben so schlechte Voraussetzungen geschaffen, das muss erst einmal repariert werden, was sie da angerichtet haben. Wenn die Gladbacher das stabilisieren, was sie bis jetzt gespielt haben, dann ist es möglich, dass sie eine größere Rolle spielen. Die Dortmunder werden aber noch kommen.

Sie gehören zu denen, die Ihren alten Klub immer ermahnt haben, nicht mit wenig zufrieden zu sein.

Netzer Warum auch? Die Gladbacher werden überall gelobt, jeder ist erstaunt über die Leistungen. Das ist berechtigt, sie haben ein gut funktionierendes Team, sie haben einen sehr guten Trainer, der dieses zusammengebracht hat. Und jetzt muss sich das in der Tabelle zeigen.

Hat die WM neue fußballerische Trends geboten?

Netzer Nein, diese WM hat keine sensationellen, revolutionären Entwicklungen gebracht. Es haben die besten gewonnen, das waren wir, die Deutschen, auch wenn es im Endspiel ein bisschen Glück brauchte.

Was Neues haben Sie nicht gesehen?

Netzer Es ist so, dass der Fußball sich entwickelt, er wächst zusammen. Viele Mannschaften, die selbst nicht das Potenzial haben, profitieren von dem, was ihnen gezeigt wird, was Bayern ihnen zeigt, wie kultivierter Fußball aussieht. Das merke ich teilweise in den unteren Regionen schon, da wird versucht, keinen Hauruck-Fußball mehr zu spielen. Das ist eine schöne Entwicklung. Aber der ganz große Fußball wird bestimmt durch die ganz großen Stars, das ist einfach so, die machen den Unterschied. Und die gibt es nach wie vor. Das ist schön, dass wir was zu sehen kriegen.

Von unserer Mannschaft gab es nach der WM noch nicht so viel zu sehen. Muss man Bedenken haben?

Netzer Es ist sicherlich übertrieben, Bedenken zu haben. Wir sind in einer Phase, mit der wir vielleicht nicht gerechnet haben. Wir werden meines Erachtens keine Probleme haben, die Qualifikation zu schaffen, aber der ganz große Rhythmus ist noch nicht wieder aufgekommen. Das wird kommen, wenn die Schlüsselspieler wieder den Rhythmus aufgenommen haben. Diese Mannschaft ist ja nach wie vor entwicklungsfähig. Es ist ja nicht so, dass sie am Rande ihrer Leistungsfähigkeit arbeitet. Sie besitzt viel Potenzial und hat ganz viele junge Spieler in der Hinterhand. Und die Etablierten sind ja auch noch jung.

Zu Ihrer Zeit mussten die jungen Spieler noch drei Jahre lang die Bälle tragen?

Netzer Das war auch nicht so schlecht.

Eine richtige Ausbildung wie heute gab es aber nicht.

Netzer Nein, um Gottes Willen, wir waren Autodidakten. Ich kann mich erinnern, dass ich auf der Straße privilegiert war mit meinem echten Lederball. Ich hab tausendmal gegen die Wand geschossen und dadurch meine Technik verbessert. Das ist großartig gewesen, wir hatten ja keine professionellen Trainer. Diese Dinge sind aus der Intuition entstanden.

Heute gibt's schon für die 13jährigen Stützpunkttraining und Förderung.

Netzer Das ist hochprofessionell aufgefangen worden, und es ist ein Teil unseres Erfolgs. Ein Blick in die Ferne auf die WM Russland und Katar. Es gibt viel Kritik an der Vergabe, was sagen Sie? Netzer Katar ist eine glatte Fehlentscheidung gewesen, wie immer das zustande gekommen ist. Es geht nicht, dass da zu der üblichen Jahreszeit gespielt wird. Man hat sich selbst in ein Dilemma hineinmanövriert, aus dem man jetzt schleunigst herauskommen muss. Das wird gelingen mit großem Aufwand von allen. Russland ist auch ins Gerede gekommen.

Sie haben kürzlich Ihren 70. Geburtstag und sind immer noch mitten im Geschäft.

Netzer Wenn Sie wüssten, bei mir rieselt der Kalk, mein lieber Mann.

Haben Sie nicht mal daran gedacht, ein gemütliches Rentnerleben zu führen?

Netzer Nein, aber meine Tätigkeiten wurden ja zu allen Zeiten überschätzt. Ich hab nie so viel gearbeitet, wie man mir zugedacht hat.

Sie haben mal gesagt: Mir ist vieles einfach passiert, das ist ein großes Glück.

Netzer Dazu stehe ich. Viele Fußballer sagen, dass sie privilegiert sind. Ich gehe einen Schritt weiter und glaube, ohne esoterische Mächte zu bemühen, dass ich ferngesteuert bin. Viele Entscheidungen, die ich getroffen habe, kann ich nicht nachvollziehen. Die sind passiert, und sie sind gut ausgegangen. Dieses Pokalendspiel kann doch kein Mensch verstehen (Netzer wechselte sich 1973 gegen Köln vor der Verlängerung ein und erzielte das entscheidende Tor zum 2:1/Anm. d. Red). Und dass das auch noch gut ausgeht. Ich hab mir keine Gedanken gemacht, ich hab's einfach getan.

Ist Ihnen der HSV auch zugelaufen?

Netzer Ich saß da in der Schweiz und hatte nichts zu tun. Der Präsident glaubte, ich könne den Manager machen, aber ich wollte nur die Stadionzeitschrift. Das kann ich, habe ich gesagt. Dann haben wir uns geeinigt, dass ich beides mache. Von der Stadionzeitschrift redet keiner mehr. Netzer Ich hatte viel Glück. Warum habe ich Happel verpflichtet? Ich habe ihn nur einmal getroffen und gesehen, wie seine Mannschaft spielt. Da habe ich erkannt, das muss ein großer Trainer sein. Dann hab ich es riskiert, ich habe immer einen gewissen Mut zum Risiko gehabt.

Zu Ihrem 70. gab es große Elogen. Sie gehören zu den wenigen Menschen, die noch zu Lebzeiten für ihr Lebenswerk ausgiebig gefeiert werden.

Netzer Das ist schön. Ich hab wenig gelesen. Aber auch wenn ich alles gelesen hätte, hätte sich mein Leben nicht verändert. Mein Naturell und mein Charakter sind, dass ich das eine wie das andere einschätzen kann. Es ist meistens in die eine oder andere Richtung übertrieben. Dass mich das wahnsinnig freut, dass ich am Ende meines Lebens so viel Anerkennung erfahre, das ist normal. Das ist wunderbar. Aber ich weiß, was ich kann und was ich nicht kann. Und ich weiß, wo ich herkomme, deswegen war es gefahrlos, dass es mein Leben verändert. Keine Chance.

Ihr Freund Uli Hoeneß muss mit einem sehr veränderten Leben klarkommen. Sie haben ihn besucht, mit welchen Gefühlen?

Netzer Ich habe mich jedenfalls besser gefühlt als Ottmar Hitzfeld, der mit mir in Landsberg war. Er war noch nie im Gefängnis und wusste nicht, wie das ist, wenn sich die Türen schließen. Das ist schon etwas Besonderes. Und dann, wenn der Uli Hoeneß da rauskommt als Gefangener und erzählt, wie sein Leben da ist. Ich habe größte Bewunderung empfunden für ihn, weil er das so gemeistert hat. Auch zu meinem Leben gehört das Wort Akzeptanz. Er hat seine Situation angenommen, er lebt genau nach diesen Richtlinien, die sein müssen. Er hat keine Privilegien, die will er auch nicht. In guter Verfassung habe ich ihn angetroffen, ganz stolz hat er sein Gewicht hergezeigt.

Wir sitzen hier in Düsseldorf, Ihr Unternehmen unterstützt auch die Fortuna, die Sie einen schlafenden Riesen nennen.

Netzer Das Tempo, wie ein solcher Riese geweckt werden kann, ist schwierig zu bestimmen. Ich freue mich natürlich über den augenblicklichen Erfolg, den ich bitte nicht überzubewerten. Er ist kein Hinweis darauf, dass schon irgendetwas geschafft sei, dass der Aufstieg unmittelbar bevorstehe.

Der HSV, den Sie als Manager geführt haben, steckt im Abstiegskampf. In der zweiten Liga drängt Leipzig auf den Aufstieg. Würde die Bundesliga ärmer, wenn Leipzig nach oben kommt?

Netzer Das finde ich nicht. Ich weiß nicht, warum man Leipzig und Hoffenheim etwas vorwirft, das ist mir unbegreiflich. Sie tun nichts Unrechtes, was Dietmar Hopp in Hoffenheim leistet, ist toll - auf sozialem Gebiet ebenfalls. Das Modell Red Bull ist zu erkennen, es ist aber längst nicht gelaufen, dass die Leipziger den Durchmarsch machen. Ich hab schon gelesen, dass sie zum Konkurrenten von Bayern München werden, das sind abenteuerliche Prognosen. Der Traditionsverein HSV hat einfach nicht aufgepasst. Wenn man zwei, drei Jahre nicht aufpasst und nur auf die Tradition verweist, dann ist man nicht fähig. Er hat die Situation falsch eingeschätzt, dafür wird er bestraft.

Was kann der HSV von Leipzig und Hoffenheim lernen?

Netzer Es geht nicht um Leipzig und Hoffenheim. Die Traditionsvereine müssten den Fußball besser kennen. Er hat sich nicht verändert, wenn es um die Voraussetzungen für den Erfolg geht. Dazu gehört eine seriöse Führungspersönlichkeit, eine Gemeinschaft, die fähig ist - auf verschiedenen Gebieten, die mit der Öffentlichkeit umgehen kann, die einen sportlich fähigen Mann an der Spitze hat und einen Trainer, der das umsetzen kann. Das ergibt sportlichen Erfolg.

Das haben die Bayern verstanden.

Netzer Das ist bewundernswert. Der Trainer hat einen Blick, er erarbeitet diese Qualität. Er hat eine Fußballidee, die einfach perfekt ist. Aber er ist kein sturer Trainer. Es hat nicht einmal ein halbes Jahr gedauert, da haben sich die deutschen Spieler an ihn gewöhnt. Jetzt haben sie eine Mischung gefunden für diesen Fußball, den er bei Barcelona erfunden hat, und etwas Deutschem, das er gebraucht hat. Es ist vielleicht noch besser als bei Barcelona.

Gladbach hat auf das Spiel reagiert.

Netzer Die Gladbacher sind mit dem geeigneten Mittel dagegen angetreten, sie haben nicht mitgespielt. Wer mit den Bayern mitspielt, der kriegt zwischen fünf und sieben Toren - in jedem Spiel.

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