Aufschrei nach Mertesacker-Interview Nicht der Fußball, die Gesellschaft ist das Problem

Meinung · Brechreiz beim Anpfiff, Durchfall vor jedem Spiel: Bemerkenswert offen schilderte Fußball-Weltmeister Per Mertesacker im "Spiegel" den Druck, der auf ihm lastet. Der Aufschrei, den er damit auslöste, zeigt vor allem eins: Das Problem liegt nicht im Profifußball, sondern in unserer Leistungsgesellschaft.

Im Fußball werden vor allem die Krieger gefeiert. Typen, die dafür bewundert werden, dass sie sich trotz klaffender Platzwunde am Kopf furchtlos in den Luftkampf schmeißen. Die grätschen und besonders laut palavern. Im Fußball ist wenig Platz für Zwischentöne.

Entsprechend kontrovers wurde aufgenommen, was Fußball-Weltmeister Per Mertesacker jetzt dem "Spiegel" erzählte: Jahrelang habe er körperlich und seelisch unter dem Druck gelitten, der auf ihm als Fußball-Profi lastete. Nach dem Aus bei der WM 2006 sei er regelrecht erleichtert gewesen, dass es vorbei war. Die Kontroverse, die er damit lostrat, sagt einiges aus über den Zustand unserer Gesellschaft.

Im Profi-Fußball hat man sich schon ganz oft versprochen, künftig mehr aufeinander acht zu geben. Die Vereine haben ein intensiveres Betreuungskonzept angekündigt. Die Fans haben beteuert, Fehler großzügig verzeihen zu wollen. Und auch die Medien haben versichert, dazugelernt zu haben. Und was ist seit Robert Enke wirklich passiert? Die Wahrheit: außer ein paar Betroffenheitsbeiträgen nicht viel.

Und was hätte sich auch ändern sollen? Vereine bieten psychologische Betreuung für Spieler an. Dieses Angebot wird aber selten bis nie abgerufen, weil es für viele schon ein Eingeständnis von Schwäche wäre, durch die geöffnete Tür zu gehen. Tatsächlich ist es mal wieder eine sehr verlogene Debatte, die da gerade geführt wird.

Denn in Wahrheit geht es nicht um die Frage, wie hoch der Druck im Fußball ist. Es geht um den Leistungsgedanken im Allgemeinen. Wie wird mit Schwäche umgegangen? Wenn sich jemand den Fuß gebrochen hat, dann bekommt er einen Gips und viele Verzierungen und Unterschriften darauf. Doch was passiert, wenn man sich die Seele verletzt hat? Gibt es dafür genauso viele aufmunternde Schulterklopfer? Kopf hoch, das geht schon wieder vorbei?

Wir alle stehen auf unterschiedliche Weise unter Druck. Die alleinerziehende Mutter, die Job und Kinderbetreuung unter einen Hut bekommen muss, der Top-Manager, der nur an seinen Quartalszahlen gemessen wird, der Journalist, der auf möglichst exklusive Geschichten hofft, der Busfahrer, den ständige Verspätungen durch dichten Verkehr aus der Bahn werfen, der Politiker, den Umfragewerte beängstigen, der Fußballer, der Musiker, und, und, und. Es geht dabei nur bedingt um die Bezahlung. Sicher bekommt man als Fußballer ein üppiges Gehalt. Doch die Höhe des Einkommens ist nicht dafür entscheidend, ob und wie man Druck empfindet.

Der Aufschrei, der rund um das Mertesacker-Porträt durch die Republik gegangen ist, zeigt vor allem, wie dringend es eine Debatte über die sogenannte Leistungsgesellschaft geben müsste. Sie wird es aber nicht geben. Weil es in dieser Frage keinen Konsens geben kann. Weil jeder auf sehr unterschiedliche Weise Belastung wahrnimmt. Und Gewinner Gewinner bleiben wollen. Verlierer werden ausgepfiffen oder bedroht, wie erst am vergangenen Wochenende in Hamburg. Nicht der Fußball ist das Problem, sondern die Gesellschaft.

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