Fankultur verändert sich Das Selfie wird zum Autogramm

Mönchengladbach · Viele Fußballfans wollen keine Unterschrift mehr von ihrem Idol, sondern ein Selfie mit dem Star. Das Smartphone verändert so die Fankultur, parallel bröckelt die schwärmerische Distanz. Und der nächste Trend ist schon in Sicht.

Bayer 04 Leverkusen: Christoph Kramers Autogramme sind heiß begehrt
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Bayer-Fans sind heiß auf Autogramme von Kramer

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Es ist an der Zeit, sich zu verabschieden. Und das eher früher als später. Von einem Phänomen, das den Fußball über Jahrzehnte treu begleitet hat. Der Autogrammjäger stirbt aus, vielmehr: Er schafft sich zusehends ab. Wie eine fossiles Stadium der Fan-Evolution wirkt heute schon zuweilen die jahrelang übliche, scheue Annäherung an ein Idol mittels des zaghaften Hinreichens von Autogrammkarte und Stift. Der Fan von heute will immer häufiger ein Selfie, also ein Handy-Foto vom Star und sich selbst in vertrauter Umarmung. Der demütige Schwärmer von einst wird so zum Einforderer fotografischer Kumpelei.

Der Homo iPhonicus verändert die Szenerie am Trainingsplatz. Bald wird niemand mehr von dem Tag berichten, als er seinem schwarzen Filzstift hinterherrennen musste, weil dieser in der Hand des signierenden Fußballers einfach weiter gewandert war. Und die wochenlange Weigerung des Sohnemanns, sich den Arm zu waschen, weil dort ein Autogramm des Lieblingsspielers prangt, werden Eltern irgendwann nur aus Erzählungen kennen.

Francesco Totti hat Spaß mit dem Selfie-Stick
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Totti hat Spaß mit dem Selfie-Stick

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Foto: dpa, drn ks

Bitte nicht falsch verstehen: Kein Profi nimmt körperlichen Schaden dadurch, wenn er mit einem Fan Arm in Arm für ein Foto posiert, aber wer sich als Profi heutzutage neben einem Fan ablichten lässt, tut - täte jedenfalls im Zweifelsfall - gut daran, vorab einmal kurz zu kontrollieren, was dieser Fan eigentlich so als T-Shirt oder Pullover trägt. Das tut natürlich keiner, es wäre aber in jedem Fall todsicher ein Knaller in allen sozialen Netzwerken, wenn ein Gladbacher Profi in der Woche vor dem rheinischen Derby unwissentlich mit jemanden posiert, dessen Brust der Schriftzug "Mer stonn zo Dir FC Kölle" oder "I love Cologne" ziert.

Man stelle sich einen Nationalspieler vor, der im nett gemeinten Umarmungs-Schnappschuss mit einem fremden Menschen zu sehen ist, bei dem "Fußball-Mafia DFB!" oder "ACAB - All Cops are Bastards" auf der Kappe prangt. Alles Schwarzmalerei? Im Netz findet man ein Foto des damaligen Schalke-Trainers Mirko Slomka, der sich 2006 mit einem "verkleideten" Dortmund-Fan ablichten ließ, während beide gemeinsam einen "Scheiß-Schalke"-Schal in die Höhe halten.

Aber der Selfie-Drang der Fan-Gemeinde bietet nicht nur Fettnäpfchen, er hat zudem in den Ohren vieler den Ton verändert. Wenn heute eine scheue Mädchen-Stimme "Herr Xhaka, könnten wir ein Foto zusammen machen?" piepst, klingt das wie Musik inmitten der Schreie, die mit einem stakkatohaften "Xhaka!" Aufmerksamkeit einfordern. Dabei wäre "Granit!" als Anrede für Gladbachs Schweizer Profi Granit Xhaka gewiss kein Problem, "Herr Xhaka!" bestimmt auch nicht. Aber nur ein "Xhaka!"? Klingt das wie eine Einladung, die man nicht ablehnen kann?

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Doch Obacht: Selfies sind zwar längst das Autogramm von heute, aber schon fangen Videos an, das Selfie von morgen zu werden. Es gibt Anhänger, die bitten Profis tatsächlich, doch kurz mal Kumpel Werner zum 50. Geburtstag in die Kamera zu gratulieren. Und vermutlich kommt in Kürze die erste Mutter auf die Idee, Philipp Lahm doch mal per Videobotschaft den 16-jährigen Sohn vor übermäßigem Alkoholkonsum warnen zu lassen. "Auf mich hört er einfach nicht mehr, Philipp!". Der Fortschritt ist nicht aufzuhalten. Ein bisschen so wie der wandernde Edding.

(RP)
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