EM-Kolumne von Berti Vogts "Unsere Spieler interessiert nicht, was früher war"

Düsseldorf · Der frühere Bundestrainer Berti Vogts glaubt nicht daran, dass sich die deutsche Mannschaft gegen Italien von der Geschichte beeindrucken lässt. Seine Gründe erläutert er in seiner EM-Kolumne.

 RP-Kolumnist Berti Vogts.

RP-Kolumnist Berti Vogts.

Foto: imago

Ich kann es nicht mehr hören! Italien ist unser Angstgegner! Da klingeln mir die Ohren! NEIN! Das war vielleicht so vor fünf, zehn oder 20 Jahren. Es ist natürlich so, dass wir bei einem großen Turnier immer gegen die Azzurri den Kürzeren gezogen haben, angefangen mit dem Jahrhundertspiel von 1970, dann 1982, 2006 und 2012. Aber die Zeiten sind vorbei. Früher war die Serie A die beste Liga der Welt, und die besten deutschen Spieler haben dort gespielt. 1996 hatte ich neun Spieler im Kader, die in Italien spielten. Aber heute? Die Bundesliga und die englische Premier League sind das Nonplusultra, dazu kommt die spanische Primera Division. Italien fällt deutlich ab.

Unsere Spieler interessiert nicht, was früher war. Sie sind im Hier und Jetzt, und da ticken die Uhren anders. Darum ist das deutsche Team für mich heute der alleinige Favorit, auch wenn es in Spielen auf höchstem europäischen Niveau immer um Nuancen geht. Ein Fehler kann entscheiden. Sicherlich kann Italien auch Deutschland besiegen, sicherlich kann es auch ein Elfmeterschießen geben. Aber wenn Deutschland das Richtige tut, und ich bin mir sicher, dass Joachim Löw das tun wird, kann uns nichts passieren.

Der Blick auf das Spiel der Italiener gegen Spanien macht deutlich, wie man gegen sie spielen muss. Man darf sich nicht von ihnen in der Anfangsphase übertölpeln lassen, dann wird es ganz schwer. Denn hinten dichtmachen können italienische Teams immer. Aber, und das hat sich gegen Spanien gezeigt: Wenn das Tempo hoch ist, hat Italien große Probleme. Auch, weil die im Schnitt älteste EM-Mannschaft schneller müde wird. Im Viertelfinale fand Contes Team ab der 60. Minute kaum noch statt, als Spanien mit Geschwindigkeit kam. Italien hatte in der Phase viel Glück, und Spaniens Tor war überfällig.

Das deutsche Team muss also von Beginn an ein hohes Tempo gehen und Italien massiv bespielen. Wir haben gegen Nordirland und auch die Slowakei gesehen, wie man sich gegen tief stehende Gegner Chancen erarbeitet. Wir haben die Männer, die die sich bietenden Chancen dann nutzen werden.

Auffällig ist ein Trend im Angriff: Der robuste Stoßstürmer ist zurückgekehrt. Fast jedes Team hat einen physisch starken Keilstürmer, der hingeht, wo es wehtut. Unser Mario Gomez ist natürlich ein anderer Typ als zum Beispiel Horst Hrubesch es früher war. Horst war ja ein Kopfballungeheuer, im Luftkampf liegt er weit vor Gomez. Aber der ist ein spielender Stürmer, der zugleich sehr präsent im Strafraum ist. Und das ist wichtig, denn viele Mannschaften machen die Mitte extrem eng, haben bis zu acht Spieler hinter dem Ball. Da ist es gut, wenn man mit Julian Draxler oder Mesut Özil Löcher über die Flügel reißen kann und im Strafraum dann ein Vollstrecker wie Mario Gomez wartet.

Aber: Auch Mario Götze wäre als Zehner in der vordersten Spitze mit einem beweglichen Stürmer wie Thomas Müller dahinter eine Option. Er könnte die langen Abwehrspieler mit geschicktem Passspiel und Eins-gegen-eins-Situationen rauslocken und so Räume schaffen. Das Gute ist: Wir haben beide Varianten auf Weltklasseniveau. Das ist unser Vorteil gegenüber Italien. Aber: Wenn man sich auf das italienische Spiel einlässt und eingelullt wird, wird es schwierig. Wir wollen doch keine böse Überraschung erleben - aber ich bin überzeugt, dass es dazu nicht kommen wird. Denn unsere Mannschaft lebt.

(RP)
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