DFB-Team reist nach Frankreich Deutschland sucht das EM-Niveau

Evian-les-Bains · Am Dienstag trifft die DFB-Auswahl im EM-Quartier Evian-les-Bains ein. Es wird Zeit, in den Wettkampfmodus zu schalten.

EM 2016: Gewinner und Verlierer der EM-Vorbereitung
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Gewinner und Verlierer der EM-Vorbereitung

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Foto: dpa, mb wst

Irgendwann in den besinnlichen Stunden nach Weihnachten, in der Zeit, die so unbestimmbar scheint, dass man sie die Zeit "zwischen den Jahren" nennt, hat Joachim Löw nachgedacht. Er führte sich noch mal vor Augen, was die Nationalmannschaft seit dem Gewinn der Weltmeisterschaft in Brasilien 2014 geleistet hatte und wie die Qualifikationsspiele zur Europameisterschaft in Frankreich gelaufen waren. Der Bundestrainer war nicht begeistert. Denn er kam zu der Erkenntnis: "Wir haben in der Qualifikation zu selten unser Niveau erreicht." Und weil er das überhaupt nicht vertragen kann, beschloss er, diese Einsicht nicht für sich zu behalten.

Da traf es sich prima, dass seine Spieler ein knappes halbes Jahr vor dem Auftakt der Europameisterschaft im Januar in München zu den sogenannten Marketingtagen des DFB zusammenkamen. Dort werden allerlei Werbefilmchen gedreht und Fotos für die Sponsoren gemacht, bei denen viel gejubelt und strahlend in die Kameras geschaut wird. Ausgerechnet hier unterbreitete der Bundestrainer seine ernsten Ansichten zur jüngeren Vergangenheit.

Und nachher hatten seine erklärten Führungsspieler nicht nur ausgiebig Fußballfreude im Studio vorempfunden, sondern auch die Botschaft ihres Fußballlehrers verstanden. "Wenn wir ehrlich sind, hätten wir in unserer aktuellen Verfassung keine Chance bei der EM", sagte Sami Khedira damals der "Welt", "dafür waren die Leistungen in den vergangenen Monaten nicht gut genug. Ich denke, das ist jedem von uns bewusst. Jeder weiß, dass wir alle noch eine Schippe drauflegen müssen, wenn wir bei der EM um den Titel mitspielen wollen."

So richtig gelungen ist das auch nach den Marketingtagen von München nicht, jedenfalls nicht durchgängig. Immerhin dürfen Löws Jungs für sich in Anspruch nehmen, in den entscheidenden Begegnungen der EM-Qualifikation wenigstens mal in die Nähe des Leistungsvermögens gekommen zu sein. Vor allem die Begegnung mit Polen in Frankfurt (3:1) zeigte, dass auch in der "Nach-Lahm-Ära" einiges möglich ist. Doch mit der sicheren Qualifikation vor Augen ließ prompt die Konzentration nach. Vorstellungen wie bei der 0:1-Niederlage in Irland und dem 2:1-Rumpelsieg gegen Georgien haben sicher sogar Löw nachdenklich gemacht.

Noch glaubt er, "schon auch" die Kurve zu kriegen. Und er bezieht seine Zuversicht aus zehn Jahren Erfahrung im Bundestrainer-Amt. Die Endrunde in Frankreich ist sein fünftes großes Turnier. Fast immer ging die Mannschaft nicht gerade in bester Verfassung ins Trainingslager, und meistens gab es vor dem ersten Spiel viele Fragezeichen. Löw hat stets eine Antwort gefunden, selbst wenn er gelegentlich auf den Erfolgsweg getragen werden musste. Bestes Beispiel: Seine späte Entscheidung, Philipp Lahm in Brasilien wieder auf die Verteidigerposition zurückzuziehen.

Die Mission EM beginnt

Am Dienstag treffen seine Spieler nach einem kurzen Heimaturlaub im EM-Quartier Evian-les-Bains an der französischen Seite des Genfer Sees ein, das im besten Fall für einen Monat die Wahlheimat wird. Und Löw hat nach dem letzten Testpiel in Gelsenkirchen gegen die Ungarn (2:0) verraten, dass er schon im Training in Ascona "diese Intensität und Mitarbeit" gespürt habe. Die Spannung sei zu merken, sagte der Coach. Deshalb sei er optimistisch, dass die Mannschaft ihr wahres Niveau beim Turnier (10. Juni bis 10. Juli) erreichen werde.

Wenn ihr das gelingt, dann gehört sie zu den natürlichen Favoriten auf den Titel. Gegen diese Rolle wehrt sich auch niemand. Wer als Weltmeister nach Frankreich reist, der wird sich selbstverständlich nicht damit zufrieden geben, ein paar Ründchen freundlich mitzukicken. Der größte Titel im Fußball kann allerdings auch nachteilig wirken. Die Qualifikation bewies das, die Rückkehr in den Alltag war für die in Rio gekrönten Häupter und deren Nachfolger alles andere als leicht.

Es ist kein Wunder, dass bislang lediglich Frankreich und Spanien nach der Weltmeisterschaft auch die Europameisterschaft gewannen. Dazu braucht es nicht nur fußballerische Qualität, sondern große psychische Kraft.

Deshalb beschwört Löw gern die großen Kategorien. Vom "Abnutzungskampf" spricht er, vom "absoluten Willen" von der "Königsdisziplin Turnier". Zum eigenen Unglück hat er aber auch schon über die EM gesagt, sie liege für ihn als Durchgangsstation auf dem Weg zur Titelverteidigung bei der WM 2018. Das war zumindest ein bisschen ungeschickt.

Heute spricht er lieber davon, dass sich die Mannschaft in einer Entwicklung befinde, und dass er als Cheftrainer immer über den Tellerrand der Gegenwart hinausschauen müsse. Dass es aber nicht allein um Produktentwicklung, sondern immer auch um Titel geht, hat er längst begriffen. Obwohl er ein erklärter Anhänger des Schönen und Guten im Fußball bleibt, hat er bereits in Brasilien einen neuen Hang zur Zweckmäßigkeit erkennen lassen.

Der führte zum wichtigsten Titel. Aber selbst in den Jahren vor der WM-Endrunde in Südamerika hat Löw Turniermannschaften gebaut. Nie ist eines seiner Teams vor dem Halbfinale nach Hause gefahren. Die Vorschlussrunde ist diesmal ebenfalls ein realistisches Ziel.

(pet)
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