Blick geht nach vorne Nach der EM ist vor der WM

Marseille · Mit dem Ausscheiden geht der Blick nach vorne Richtung Russland 2018. Bei der Planung für die kommende Weltmeisterschaft gilt es, Schwachstellen zu beheben. Aber es gibt auch reichlich Erkenntnisse, die positiv stimmen.

Mit dem Ausscheiden geht der Blick nach vorne Richtung Russland 2018.

Mit dem Ausscheiden geht der Blick nach vorne Richtung Russland 2018.

Foto: Ferl

Wenn Joachim Löw mal so richtig aufgeregt ist, wenn ihn etwas emotional packt, dann fällt er in den Dialekt seiner badischen Heimat. Das geht vielen so. Nach dem 0:2 der DFB-Auswahl im EM-Halbfinale gegen Frankreich ist so ein Moment. Löw spricht über das Ausscheiden des Weltmeisters, und aus vielen "S" werden "Sch". Er sagt: "Der Stachel sitzt tief." Und er will sich mit Gedanken an die Zukunft gar nicht erst befassen. "Zur Analyse ist es noch zu früh, darüber mache ich mir morgen, in drei Tagen oder vier Wochen Gedanken", erklärt er. Auf die Frage, ob er beim nächsten Länderspiel gegen Finnland im August in Mönchengladbach noch auf der Bank sitze, sagt er: "Ich denke schon." DFB-Präsident Reinhard Grindel stellt fest: "Nach der EM ist vor der WM." Wo steht Löws Team nach der EM, wo liegen die Probleme?

Die Teamleistung Die deutsche Mannschaft hat sich im Turnier von Frankreich gesteigert, sie ist zusammengewachsen, "sie hat tollen Teamgeist bewiesen", wie Löw sagt. Ihr bestes Spiel bot sie beim Ausscheiden, sie beeindruckte den Gastgeber mit Pass-Sicherheit, Tempo in den Kombinationen und einer gesunden Mischung aus Spielfreude und ernster Berufsauffassung. Löw findet, sie habe insgesamt "ein tolles Turnier gespielt". Das ist ein bisschen zu dick aufgetragen, ein gutes Turnier war es dennoch.

Die Spielidee Die Deutschen hatten in Frankreich die beste Abstimmung. Sie verteidigten nach frühen Aussetzern im ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine als Team sehr gut, gestatteten ihren Gegnern wenig Platz und waren "sehr dominant, auch in der Körpersprache", was Löw nach dem Frankreich-Spiel zu Recht herausstellt. Deshalb waren sie auch der Turnierfavorit, und deshalb ist die Enttäuschung größer als nach anderen Niederlagen im Halbfinale zuvor.

Die Torgefahr Die Abwehr gewinnt Titel, heißt es. Sie muss allerdings auch einen Angriff zur Seite haben, der gelegentlich Spiele gewinnt. Dafür müssen Tore her, und in dieser Hinsicht ist Löws Team in Frankreich sehr sparsam gewesen. Vor allem Thomas Müller, der bisher in seiner Laufbahn mit großer Selbstverständlichkeit Treffer in allen Lebenslagen erzielt hat, blieb weit hinter den Erwartungen. Er schuftete und ackerte, aber in seinem Job als Torjäger versagte er. Nach dem Frankreich-Spiel sagt er: "Es passt zu den Spielen davor, ich habe alles versucht, aber es hat nicht sollen sein."

Problemposition Mittelstürmer Nach vielen Jahren hatte Deutschland mal wieder einen echten Mittelstürmer, Mario Gomez. Er fehlte gegen Frankreich, und nicht nur der wegen einer Sperre ebenfalls zum Zuschauen verurteilte Verteidiger Mats Hummels urteilt: "Gegen tiefstehend verteidigende Mannschaften brauchst du einen Mittelstürmer, der Präsenz im Sechzehnmeter-Raum zeigt." Gomez ist auch schon 31 Jahre alt, hinter ihm herrscht gähnende Leere. Die Nachwuchsförderung hat sich offenbar über viele Jahre voller Begeisterung der Heranbildung offensiver Mittelfeldspieler mit Bewegungsdrang und feinem Füßchen gewidmet. Es wird Zeit, wieder an Strafraumspieler zu denken, die gegen die zunehmend defensive Ausrichtung Wirkung erzielen können.

Die Außenverteidiger Nach Philipp Lahms Rücktritt hatten die Deutschen hier die größten Sorgen. Die schlimmsten Befürchtungen aber zerstreute die EM. Jonas Hector macht seinen Job auf der linken Seite seit zwei Jahren mit stetig wachsender Klasse. Er ist so lernfähig, dass da noch mehr zu erwarten ist. Joshua Kimmich hat bewiesen, dass er die Planstelle auf der rechten Seite auf Dauer besetzen könnte. Gegen die kleinen Gegner war er sehr gut, gegen die großen hat er Lehrgeld gezahlt. Das gehört dazu.

EM 2016: Nationalspieler landen in Düsseldorf
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Foto: Endermann, Andreas

Die Innenverteidiger Wenn sie gesund sind, hat Deutschland das beste Innenverteidiger-Paar Europas, wahrscheinlich das beste der Welt. Jerome Boateng ist in Frankreich noch einmal sichtbarer in seiner Rolle als Führungsspieler hervorgetreten. Auf dem Platz war er schon vorher imposant. Mats Hummels ist nicht so schnell wie sein künftiger Bayern-Kollege, aber er hat ein ausgezeichnetes Stellungsspiel und ist ein ebenso kluger Mann in der Spieleröffnung. Durch diese beiden Schränke passt wenig. Sie sind eine sichere Bank im Blick auf die WM in Russland.

Der Nachwuchs Kimmich hat sich bereits etabliert, Leroy Sané hat kurz gespielt, Julian Weigl und Jonathan Tah blieben ohne Einsatz. Löw lobte ausdauernd ihre Moral und ihr Können, "dadurch hatten wir beim Training ein unheimlich hohes Niveau". Sie werden schon in der Qualifikation für Russland deutlich mehr Einsätze bekommen. Löw wird das Gesicht der Mannschaft wieder verändern.

Die alten Herren Es ist fraglich, ob für Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski dann noch Platz ist. Schweinsteiger trägt sich offensichtlich mit Rücktrittsgedanken. Podolski erklärt zwar munter, er wolle weitermachen in der Nationalmannschaft, er wäre dann aber endgültig in der Rolle des Team-Maskottchens angekommen, gegen die er sich bei dieser EM so lautstark gewehrt hat.

Die Verlierer Die Angreifer André Schürrle und Mario Götze haben sich, vornehm ausgedrückt, nicht in den Vordergrund gespielt. Julian Draxler hat Schürrle den Rang abgelaufen, Götze konnte erneut nicht beweisen, dass er besser ist als Messi, wie es Löw in seinem goldenen Wort bei der Finaleinwechslung in Rio 2014 verlangte. Nach verlorenen Jahren bei den Bayern steht Götze vor einem dringend notwendigen Neuanfang. Große Werbung für sich konnte er nicht machen.

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Foto: dpa, mr

Die Perspektiven Die deutsche Mannschaft hat einige sehr reife Auftritte hingelegt. Sie ist in ihren Grundpositionen eingespielt, und sie hat sicher nicht weniger Potenzial als der Europameister von morgen. Deshalb wird sie ganz sicher die Qualifikation für Russland schaffen. Und sie wird dort zu den Favoriten zählen. Wie sagte Frankreichs Trainer Didier Deschamps: "Deutschland ist die beste Mannschaft der Welt." Er muss es wissen.

(pet)
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