Mittelstürmer verzweifelt gesucht Gomez steigert seinen Wert von der Bank aus

Marseille/Düsseldorf · Die deutsche Nationalmannschaft scheitert bei der EM im Halbfinale und es liegt auch an Mario Gomez. Bis vor Kurzem war das sowieso ein logischer Satz. Doch diesmal leidet das DFB-Team nicht unter der An-, sondern unter der Abwesenheit des Stürmers.

Deutschland - Frankreich: Reaktionen zum EM-Halbfinale 2016
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Deutschland - Frankreich: Reaktionen

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Das Wort "Neuner" bewegte in der Gunst deutscher Sport-Beobachter lange Zeit an der Schwelle zur Beschimpfung — wenn es nicht gerade um eine erfolgreiche Biathletin mit dem Vornamen Magdalena ging. Ohne das Adjektiv "falsch" war der "Neuner" ohnehin selten noch zu sehen. Das hing im weitesten Sinne mit Mario Gomez zusammen, der die Mittelstürmer-Zunft mit einem epischen Fehlschuss bei der EM 2008 scheinbar im Alleingang in Verruf gebracht hatte. Ausgerechnet der 30-Jährige hatte jedoch einen Anteil daran, dass zuletzt wieder halbwegs ehrfürchtig vom "Neuner" gesprochen wurde, obwohl die Biathletin längst in Rente ist.

Gomez war im Halbfinale gegen Frankreich Teil des prominenten Ausfalltrios um den gelbgesperrten Mats Hummels und den angeschlagenen Sami Khedira, aus dem nach Jerome Boatengs verletzungsbedingter Auswechslung ein Quartett wurde. Mühselig ist die Diskussion, ob Gomez am Donnerstagabend am meisten von allen fehlte. Fest steht: Der Angreifer wurde schmerzlich vermisst.

Gomez hatte in 270 Turnierminuten zwei Tore erzielt, Mesut Özils Führungstreffer gegen Italien mit einem Mesut-Özil-Pass eingeleitet und das womöglich entscheidende 2:0 etwas fahrlässig vergeben. Vor allem hatte Gomez permanent gearbeitet und mit seinen 88 Kilogramm für Präsenz im Strafraum gesorgt. Technische Einschränkungen waren natürlich da, aber einem Innenverteidiger wirft auch niemand mangelnde Dribbling-Fähigkeiten vor. Unterm Strich war Gomez ein guter "Neuner" — und niemand meinte es böse.

Gegen Frankreich spielte Thomas Müller ganz vorne. Oder war es der Gewinner eines Thomas-Müller-Ähnlichkeit-Wettbewerbs und der echte Thomas Müller striegelt in der Heimat schon seit vier Wochen entspannt die Pferde seiner Frau? Julian Draxler schien sich nicht entscheiden zu können, ob er lieber mit Jonas Hector die linke Seite überlagert oder selbst die Abschlüsse sucht. Mario Götze kam nach seiner Einwechslung so wenig zur Geltung, als habe Joachim Löw ihm zugeflüstert: "Ich glaube nicht, dass du annähernd so gut bist wie Antoine Griezmann."

Das waren die Defizite einer zwischen Mittellinie und gegnerischem Strafraum sehr starken Leistung. Löw hatte sich weder vercoacht noch verkadert. Er hatte jeden deutschen Mittelstürmer nominiert, der internationalen Ansprüchen noch genügt, schon genügt oder überhaupt einmal genügt hat. Wäre die deutsche Nationalmannschaft ein Verein, hätten Hansi Flick und Oliver Bierhoff längst eine Verpflichtung Robert Lewandowskis forciert. So aber bleibt nur die resignierende Erkenntnis, dass Uwe Seeler, Gerd Müller, Klaus Fischer, Horst Hrubesch, Rudi Völler, Jürgen Klinsmann oder Miroslav Klose nur einen tauglichen Erben. Der heißt Mario Gomez und laboriert an einem Muskelfaserriss.

Reflexartig wird die Torjägerliste der vergangenen Bundesligasaison herausgekramt. Da hätten wir als halbwegs echte "Neuner" im Angebot:

  1. Sandro Wagner (SV Darmstadt) - 14 Tore
  2. Alexander Meier (Eintracht Frankfurt) - 12 Tore
  3. André Hahn (Borussia Mönchengladbach) - 8 Tore
  4. Pierre-Michel Lasogga (Hamburger SV) - 8 Tore
  5. Mark Uth (TSG Hoffenheim) - 8 Tore
  6. Simon Zoller (1. FC Köln) - 6 Tore
  7. Stefan Kießling (Bayer Leverkusen) - 5 Tore

Der Vollständigkeit halber noch ein Blick auf die 2. Bundesliga:

  1. Simon Terodde (VfL Bochum) - 25 Tore
  2. Nils Petersen (SC Freiburg) - 21 Tore

All diese Kandidaten wären als Gomez-Alternativen ein schlechter Witz gewesen. Dass ein Angreifer allein aufgrund seiner Torquote nominiert wird, hat es seit Martin Max nicht gegeben. Die genannten wären wohlgemerkt Alternativen für einen Mann, der von 2008 bis vor ein paar Wochen in Deutschland oft selbst als schlechter Witz gesehen wurde. Dass Rekordtorjäger Miroslav Klose mit 38 Jahren und nach einem starken Saison-Endspurt in Italien mit sieben Treffern in sieben Einsätzen noch am wenigstens absurd gewesen wäre, bringt die ganze Misere auf den Punkt.

In der U21 stürmt Davie Selke von RB Leipzig, bei dem sich noch zeigen muss, ob er ein Mario Gomez sein kann oder den Sandro-Wagner-Weg einschlägt. Das aktuell größte Mittelstürmer-Talent soll Johannes Eggestein von Werder Bremen sein. Der 18-Jährige hat in 33 Junioren-Länderspielen 24 Tore erzielt. In 81 Einsätzen in der B- und A-Junioren Bundesliga war er 81-mal erfolgreich. Der FC Bayern soll an Eggestein interessiert gewesen sein, der allerdings erst einmal in Bremen bleibt. Mit einer Größe von 1,83 Meter verkörpert er jedoch auch nicht den neuerdings wieder gefragten Typus eine Gomez, eines Alvaro Morata, Olivier Giroud oder Romelu Lukaku.

Gomez wird am Tages des ersten Halbfinals bei der WM in Russland 33 Jahre alt. Falls die Lust an den Mittelstürmern bis dahin nicht wieder versiegt, gehört der Gegenwart im DFB-Team auch die nahe Zukunft. Löws größte Aufgabe in der im September beginnenden Qualifikation wird es sein, Alternativen gegen tiefstehende Gegner zu entwickeln. Selbst der EM-Gastgeber hatte im Halbfinale nur 32 Prozent Ballbesitz und kein Problem damit.

(jaso)
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