Interview mit Weltmeister Özil "Könnte mir keinen besseren Bundestrainer vorstellen"

Düsseldorf · Mesut Özil (FC Arsenal) spricht im Interview mit dem Sport-Informationsdienst über die EM und darüber, was er nach der Karriere auf jeden Fall tun wird.

Mesut Özil – Spielmacher, Rekordtransfer, Weltmeister
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Das ist Mesut Özil

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Foto: afp, desk

Herr Özil, Sie sind nun schon im dritten Jahr in London. Was macht diese Stadt aus?

Mesut Özil "Ich bin sehr froh, dass ich diese unglaubliche Stadt erleben und bei einem solch großen Verein spielen darf. Jeder, der mal hier war, weiß, dass man in London viel unternehmen kann."

Werden Sie auch im kommenden Jahr in London spielen? Es gab Gerüchte über Interesse des FC Barcelona und auf Eis gelegte Vertragsverhandlungen.

Özil "Es hat keine Eile. Ich habe noch zwei Jahre Vertrag. Ende der Saison werden wir sehen, wie es weitergeht."

Aktuell ist Arsenal Vierter. Ist es bisher eine erfolgreiche Saison oder — angesichts der Tatsache, dass in Leicester City ein Außenseiter Tabellenführer ist — ein verschenkter Meistertitel?

Özil "Wenn wir Dritter werden und uns damit direkt für die Champions League qualifizieren, hätten wir zumindest unser Mindestziel erreicht. Aber in dieser Saison wäre es möglich gewesen, Meister zu werden. Doch dafür haben wir vor allem gegen kleine Mannschaften zu viele Punkte liegen gelassen."

Was hätten Sie vor der Saison gesagt, wenn Ihnen jemand prophezeit hätte, dass Leicester wohl Meister wird?

Özil "Das hätte ich definitiv nicht geglaubt. Niemand hätte das geglaubt. Aber man kann vor Leicester nur den Hut ziehen. Sie geben in jedem einzelnen Spiel zu 100 Prozent Gas und stehen deshalb zurecht dort oben."

Sie waren als Spieler des Jahres nominiert und Ihnen fehlen noch zwei Vorlagen zum ewigen Assist-Rekord der Premier League. Was bedeuten Ihnen solche Auszeichnungen?

Özil "Ich bin stolz darauf, was ich diese Saison geleistet habe. Aber ich habe noch nie Wert auf persönliche Auszeichnungen gelegt, der Erfolg der Mannschaft ist mir immer wichtiger."

Nach der Saison steht die EM an. Sami Khedira hat im Winter gesagt, in der aktuellen Verfassung habe das DFB-Team keine Chance auf den Titel. Geben Sie ihm recht?

Özil "Ich bin nun schon einige Jahre dabei. Vor den Turnieren gab es immer etwas Unruhe. Nach der WM hatten wir einen Umbruch, es gab einige Verletzungen. Doch am Ende waren wir immer mindestens im Halbfinale. In Brasilien haben wir das Ding sogar geholt. Ich gehe davon aus, dass auch wir dieses Mal direkt beim Turnierstart da sind. Wir sind eine Turniermannschaft. Wenn es um etwas ging, waren wir immer da. Die Fans erwarten natürlich, dass wir Europameister werden. Leicht wird das nicht, wir dürfen keinen unterschätzen. Aber wenn wir unser Potenzial komplett ausschöpfen, bin ich überzeugt, dass wir Europameister werden können."

Wie schafft es das deutsche Team immer, sich im Trainingslager zu fokussieren und zusammenzuwachsen?

Özil "Irgendwann kurz vor dem Turnier vergeht die Zeit gefühlt nicht. Die Anspannung steigt, alle wollen, dass es endlich losgeht. Und wenn es dann endlich losgeht, freuen sich alle darauf, auf dieser großen Bühne dabei zu sein. Dann wollen wir der ganzen Welt zeigen: Wir sind die deutsche Nationalmannschaft."

Sind Sie froh, dass Sie das Trainingslager und das EM-Quartier in den Bergen und an Seen aufschlagen wird und nicht beispielsweise in Paris im prallen Leben?

Özil "So ist es schon besser. Ich habe in London immer viel Action und viel Verkehr. Bei der EM ist es gut, wenn man in den Pausen komplett abschalten kann."

Dennoch entsteht, unabhängig von der Motivation jedes Einzelnen, offenbar auch ein ganz besonderer Geist in diesen Trainingslagern. Welchen Anteil hat daran Bundestrainer Joachim Löw?

Özil "Einen großen. Er motiviert uns sehr und stellt uns ganz genau auf jeden einzelnen Gegner ein. Wir fühlen uns sicher, weil wir genau wissen, was uns erwartet."

Jan Kirchhoff — der ebenfalls in England spielt, aber zugegebenermaßen nie in der Nationalmannschaft — hat zuletzt im Guardian gesagt, Deutschland sei wegen der Klubtrainer Pep Guardiola und Jürgen Klopp, aber nicht wegen Löw Weltmeister geworden. Was entgegen Sie ihm?

Özil "Man muss sich nur die Entwicklung anschauen. Die deutsche Nationalmannschaft von vor zehn Jahren und die heutige, das ist ein großer Unterschied. Heute bewundert die ganze Welt die deutsche Mannschaft, weil sie nicht mehr nur kämpft. Heute sind wir eine spielstarke Mannschaft und können Gegner auch schwindlig spielen. Das ist das Verdienst einer guten Nachwuchsarbeit im DFB — und des Bundestrainers, der großen Anteil an dieser Entwicklung hat. Ich könnte mir keinen besseren Bundestrainer vorstellen."

Zwischen den Turnieren lagen zuletzt zwei mäßige Jahre. Thomas Müller deutete nach dem 2:3 gegen England an, dass die Motivation in Freundschaftsspielen manchmal schwer fällt. Ihnen auch?

Özil "Nein, überhaupt nicht. Allenfalls nach dem 2:0. Da haben vielleicht einige von uns in der einen oder anderen Situation zurückgezogen, weil wir geführt haben, die Engländer hart rangegangen sind und sich niemand kurz vor der EM verletzen wollte. So hat Thomas das glaube ich auch gemeint. Er ist eben ein ehrlicher Typ und sagt immer, was er denkt, auch vor der Kamera. Deshalb lieben ihn die Deutschen so. Und gegen Italien hat man gesehen, dass wir immer guten Fußball spielen und gute Ergebnisse erzielen wollen. Auch in Testspielen."

In diesem Fall wurde Müller kritisiert und erklärte schließlich, er werde dann in Zukunft lieber wieder lügen. Wie schwer ist es, in der heutigen Zeit als öffentliche Person die Wahrheit zu sagen?

Özil "Letztendlich weiß jeder Fußballer, was er zu tun hat. Auf dem Platz und außerhalb. Natürlich wissen wir alle, was wir zu sagen haben und was nicht. Zum Beispiel darf man niemals Mitspieler oder den Verein kritisieren, sonst kommt man arrogant oder selbstverliebt rüber."

Kann England auch um den EM-Titel mitspielen?

Özil "Auf jeden Fall. Es sind viele junge Spieler nachgekommen und sie funktionieren inzwischen auch als Mannschaft. Aber nicht nur England muss man auf dem Zettel haben. Auch Frankreich, Italien, Spanien, Belgien. Und es gibt immer wieder sogenannte Kleine, die überraschen. So wie Griechenland 2004. Man muss immer auf der Hut sein."

Sie haben bei der WM links vorne gespielt. Auf welcher Position sehen wir Sie in Frankreich?

Özil "In Brasilien musste ich wegen der Verletzung von Marco Reus ausweichen. Ich gehe aber davon aus, dass ich bei der EM auf der Zehn spielen werde. Das ist meine Lieblingsposition, und der Bundestrainer weiß das."

Gegen Italien haben Sie eine 'offensive Sechs' gespielt. Wäre das für Sie auch vorstellbar?

Özil "Jeder weiß, dass ich auf der Zehn mein Potenzial am besten ausschöpfen kann. Aber ich bin niemand, der Unruhe stiftet. Wenn ich auf einer anderen Position der Mannschaft am besten helfen kann, tue ich das."

Gegen Italien hat es gut geklappt. Was sind die Unterschiede zwischen der Sechs und der Zehn?

Özil "Ich war überrascht, wie viel Zeit man hat. Wenn du weiter vorne bist, wirst du schon bei der Ballannahme von zwei oder drei Gegenspielern bedrängt. Von daher hatte ich auch auf der Sechs viel Spaß." (lacht)

Sie wechseln die Position, Sie haben in dieser Saison 18 Vorlagen und 'erst' sechs Tore - müssten Sie manchmal etwas egoistischer sein?

Özil "Manch einer rät mir das. Aber wenn ein Spieler besser steht als ich, spiele ich ab. Das ist mein Spiel, ich bin nicht egoistisch. Und ich werde mein Spiel auch nicht ändern. So habe ich immer gespielt und so werde ich auch immer spielen."

Normalerweise spielt auf der Sechs Bastian Schweinsteiger. Wie wichtig wäre es, dass er rechtzeitig fit wird?

Özil "Sehr wichtig. Bastian ist ein großartiger Spieler und eine große Persönlichkeit."

England hat einst den verletzten David Beckham als Unterstützung mitgenommen. Wäre das im Fall Schweinsteiger auch vorstellbar?

Özil "Bastian Schweinsteiger ist Fußballspieler, kein Maskottchen. Wir brauchen ihn auch nicht als dritten Co-Trainer. Wir brauchen ihn mit seiner Erfahrung und Spielintelligenz auf dem Platz."

Sein erstes Jahr in England war, auch aufgrund der Verletzungen, nicht so zufriedenstellend. Haben Sie sich oft ausgetauscht?

Özil "Ab und zu. Wir haben darüber gesprochen, dass die Umstellung auf die Premier League nicht einfach ist, weil es hier sehr auf die Knochen geht. Ich bin sicher, wir werden noch viel von ihm sehen in Manchester, wenn er gesund ist. Denn grundsätzlich fühlt er sich sehr wohl hier."

Sie haben erzählt, Sie hätten vor dieser Saison einiges verändert. Was genau?

Özil "Ich hatte im letzten Jahr erstmals eine lange Verletzung und habe das Fußballspielen sehr vermisst. Seitdem achte ich noch mehr auf Ernährung oder meine Fitness im Oberkörperbereich. Das waren Kleinigkeiten, ich habe mich ja vorher auch nicht ungesund ernährt. Aber ich esse zum Beispiel weniger Brot und trinke sehr viel Wasser."

Es gibt eine Anekdote, dass der Präsident von Galatasaray Sie als Teenager beobachtet habe und anschließend sagte: 'Der Junge ist technisch überragend, aber schwach wie ein Wurm.' Kennen Sie die Geschichte?

Özil "Nein, das höre ich zum ersten Mal. Aber ich war als Junge schon sehr klein und dünn. Heute bin ich 1,82 m — nicht mehr ganz so klein, aber immer noch einer der Kleinsten bei Arsenal." (lacht)

Wie haben Sie es trotz der körperlichen Nachteile geschafft, solch ein Karriere hinzulegen?

Özil "Durch meine Erfahrungen im Affenkäfig von Gelsenkirchen. Dort habe ich immer gegen vier, fünf Jahre Ältere gespielt. Aber ich war schnell und flink. In den Jugendmannschaften waren die Gegenspieler dann meist einen Kopf größer und ein bisschen stabiler. Aber ich hatte nie Angst, weil ich es gewohnt war, gegen regelrechte Pakete zu spielen."

Hat Ihnen das nie die Freude am Spiel verdorben?

Özil "Ich hatte immer Spaß. Ich liebe Fußball spielen, dabei blühe ich auf. Da kann ich meinen ganzen Spaß oder meinen ganzen Frust rauslassen. Noch heute, wenn ich auf Heimat-Urlaub in Gelsenkirchen bin, treffe ich mich mit meinen Freunden zum Spielen. Wenn ich einen Ball sehe, muss ich einfach kicken. Dann bin ich immer noch der kleine Mesut von damals."

Wie sehr stört gerade Sie demnach der ganze Hype um den Fußball?

Özil "Mittlerweile bin ich es gewohnt. Ich erinnere mich an mein erstes Bundesliga-Spiel, als ich plötzlich vor 50.000 Menschen gespielt habe statt vor 500. Da wurdest du schon beim Einwurf nervös. Heute ist es so: Sobald der Schiedsrichter anpfeift, konzentrierst du dich auf dein Spiel. Und das ganze Drumherum, auch die Roten Teppiche, gehört eben dazu."

Wichtig ist Ihnen Ihre Popularität aber offenbar in der Hinsicht, Gutes zu tun. Sie haben zum Beispiel Operationen von brasilianischen Kindern finanziert.

Özil "Ich liebe Kinder, sie sind unsere Zukunft. Und ich versuche, ihnen zu helfen. Das habe ich immer getan und werde ich immer tun. Aber ich bin kein Typ, der mit so etwas prahlt. Ich versuche, so etwas im Stillen zu tun."

Sie sind jetzt 27, manche Ihrer Kollegen treten mit 29 aus der Nationalmannschaft zurück (Per Mertesacker, Anm. d. Red.) oder beenden die Karriere (Marcell Jansen, Anm. d. Red.). Haben Sie sich schon Gedanken über die Zeit danach gemacht?

Özil "Ich habe hoffentlich noch ein paar Jahre vor mir. Wenn ich spüre, dass ich meine letzten Saison spiele, werde ich mir konkret Gedanken machen. Im Moment wäre das Zeitverschwendung. Ich genieße, dass ich mein Hobby als Beruf habe. Was ich weiß, ist dass ich nach der Karriere weiter Fußball spielen werde. Egal ob im Affenkäfig oder auf Asche, völlig egal. Mit Fußball spielen werde ich nie aufhören."

Gibt es denn noch ein großes Karriere-Ziel für Sie? Und sei es mit 35.

Özil "Privat werde ich definitiv nach Deutschland zurückkehren. Dort fühle ich mich heimisch, dort ist meine Familie. Sportlich ist vieles möglich. Ich sage nicht, dass ich definitiv nochmal zurück in die Bundesliga oder mal in die Türkei muss. Aber ich schließe es auch nicht aus. Vielleicht beende ich auch meine Karriere in England."

(sid)
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