EM-Kolumne Verrückte Tipps am Tabellenende

In der Republik gibt es während der EM mehr als 80 Millionen Bundestrainer – und zehn Millionen Tippgemeinschaften. Ich gehöre auch einer an, meine Großfamilie tippt. Dort geht es weder um Geld noch um Pokale, sondern nur um die Ehre – also um alles. Sobald ein Kind bis zehn zählen kann, darf – oder muss – es mitmachen.

 RP-Kolumnistin Martina Stöcker.

RP-Kolumnistin Martina Stöcker.

Foto: Phil Ninh

In der Republik gibt es während der EM mehr als 80 Millionen Bundestrainer — und zehn Millionen Tippgemeinschaften. Ich gehöre auch einer an, meine Großfamilie tippt. Dort geht es weder um Geld noch um Pokale, sondern nur um die Ehre — also um alles. Sobald ein Kind bis zehn zählen kann, darf — oder muss — es mitmachen.

In diesem Jahr gibt es ein spannendes Kopf-an-Kopf-Rennen: Die Zwölfjährige, die von Nationalteams keine Ahnung hat, dafür jeden Katzenclan aus "Warrior Cats" kennt, liefert sich ein Duell um die Spitze mit ihrer Oma. Diese bezieht ihren Sachverstand notgedrungen vom Passiv-Fußballgucken. Da die eheliche Verpflichtung dazu allerdings schon seit 50 Jahren besteht, ist zumindest bei ihr einiges hängen geblieben, und sie kann Thomas Müller von Brombeerkralle und Häherfeder unterscheiden.

Die dritte Überraschung im Teilnehmerfeld ist ein Siebenjähriger. Er hält sich an die Regel, dass immer die erste Mannschaft gewinnt, egal ob es Deutschland oder — wenn es dabei wäre — Liechtenstein ist. Am Frühstückstisch nennt er Ergebnisse, ohne sich auf eine spezielle Partie zu beziehen. "Was tippst du denn 2:0? Frankreich gegen Albanien?" "Ja, das Spiel kannst du nehmen." Und dann liegt der Kerl auch noch richtig. So ist Fußball . . .

Ich bin Letzte und kann mich nur noch durch verrückte Tipps retten. Das 1:2 bei der Partie England gegen Island zum Beispiel hat mir zunächst ein gönnerhaftes Grinsen der anderen und dann drei Punkte eingebracht. Läuft also, noch ist die Schmach abzuwenden. Immerhin stelle ich mich der möglichen Niederlage, andere Fußball-Fans in meinem Bekanntenkreis lehnen Tippspiele besonders unter Kollegen ab, weil sie es nicht ertragen können, dass die Leute ohne Ahnung sich dann zwei Jahre für ihren Sieg feiern lassen. Denn wie bemerkte ein Kollege: "Die Tippspiele im Büro gewinnen immer die Sekretärinnen, die nach Trikotfarbe und Vornamen gehen." Dieses Erfolgsrezept kopiere ich jetzt auch. Die isländischen Vornamen sind sehr schön.

Martina Stöcker (43) mag Schalke 04 und leitet das Ressort Report/NRW.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort