EM-Kolumne DFB muss den Blickwinkel verändern

Düsseldorf · Berti Vogts glaubt, dass ein eher anarchischer Fußballansatz helfen kann. Dem Bundestrainer gibt er keine Schuld.

Das sind die RP-Kolumnisten zur Fußball-EM
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Deutschlands Halbfinale gegen Frankreich hat gezeigt, wie einfach der Fußball eigentlich ist. Wenn der Gegner zwei Tore macht und der Topfavorit keines, verliert man so ein Spiel. Jetzt über die Niederlage zu jammern, ist nicht in Ordnung. Es gibt Gründe dafür. Einer ist, dass Frankreich einen hervorragenden Abend hatte. Aber vor allem: Frankreich hat Antoine Griezmann. Er ist im Moment das große Schreckgespenst des deutschen Fußballs. Er hat schon im Champions-League-Halbfinale für Atletico Madrid gegen den FC Bayern getroffen. Griezmann ist ein außergewöhnlicher Spieler: die Schnelligkeit, die Coolness im Abschluss, die Kopfballstärke. In Giroud und Gignac hat er zwei echte Mittelstürmer an seiner Seite, die Räume für ihn schaffen — Frankreich hat eine unglaublich gute Offensive voller Torhunger.

Sind wir mal ehrlich: Darauf kommt es an. Laufwege, Ballkontakte, Ballbesitz, das sind alles nette Statistiken, doch die Wahrheit des Fußballs ist: Der Ball muss ins Tor. Und um das zu schaffen, muss der unbedingte Wille da sein. Den hatten die Franzosen mehr als unser Team. Natürlich hatten wir Ausfälle, aber das zählt nicht als Ausrede. Unser Kader ist breit aufgestellt. Nun wird gesagt: Wäre Gomez dabei gewesen! Das ist komisch. Vor dem Turnier habe ich viele Artikel gelesen, in denen die Frage gestellt wurde, warum er überhaupt dabei sei. Die Antwort hat das Turnier gegeben, das habe ich vor einigen Tagen an dieser Stelle angemerkt: Der klassische Mittelstürmer ist wieder gefragt.

Thomas Müller ist eigentlich auch einer, der immer seine Tore macht. Doch er musste wohl der langen Saison Tribut zollen, er war nicht 100 Prozent gedanklich frisch. Julian Draxler fehlt die Wettkampferfahrung auf allerhöchstem Niveau. Und Mario Götze hatte keine leichte Saison. Man kann aber nicht nur auf die Stürmer schauen, sondern auch hinterfragen, wie viele Tore unsere offensiven Mittelfeldspieler erzielt haben.

In großen Spielen können schon fünf Prozent weniger entscheidend sein. In Brasilien bei der WM war Deutschland im Vollbesitz aller Kräfte, nun offenbar nicht. Das Aus im Halbfinale ist aber keine Katastrophe. Unsere Mannschaft hat insgesamt ein gutes Turnier gespielt. Eine Debatte um Joachim Löw wäre eine Frechheit. Er ist der perfekte Trainer für diese Mannschaft. Auch für ihn gibt es keinen Grund zu zweifeln. Er und sein Stab wissen, dass es Nuancen sind, die entscheiden, und werden nun mit ein paar Tagen Abstand mit der Analyse beginnen. Mit Blick auf die WM 2018. Da wollen und werden wir wieder ein Topteam haben, eines mit frischen Kräften und neuen Ideen.

Wichtig ist, sich genau anzusehen, welche Tendenzen es im Fußball gibt. Die Spanier sind für mich ein warnendes Beispiel. Sie haben an ihrem Stil festgehalten nach den großen Erfolgen. Das war der Fehler. Der Fußball entwickelt sich. Und es kann nicht schaden, wenn der DFB auch Außenstehende als Berater mit hinzuzieht, um den Blickwinkel zu verändern. Wenn man gesehen hat, wie Chile und Argentinien bei der Copa America gespielt haben, sieht man, wohin es geht: Da geht es nicht um Ballbesitz oder Ballzirkulation, da wird immer extremes Pressing gespielt und aus allen Positionen sofort der Weg zum Tor gesucht. Das ist anarchischer als der europäische Fußball, aber kein Rückschritt, sondern vielleicht die Zukunft. Löw ist der Richtige, um diese Aspekte ins deutsche Spiel einzubauen.

Wichtig ist auch, dass in den Akademien wieder die Willenskraft geschult wird. Man könnte jetzt sagen: die deutschen Tugenden. Aber eigentlich ist es der Ur-Gedanke des Fußballs: Ich will Tore machen und gewinnen. Und je mehr ich das will, desto größer ist die Erfolgschance. Was das EM-Finale angeht, haben wir da in Griezmann und Cristiano Ronaldo zwei, die diese Einstellung perfekt verkörpern - und daher Vorbilder sind für jeden Stürmer, auch für unsere Angreifer. Ich tippe, dass Portugal gewinnt und Ronaldo das entscheidende Tor erzielt. Der Junge ist großartig. Als ich früher mal bei Alex Ferguson und Manchester United hospitiert habe, war Ronaldo 17. Schon da war ein unfassbares Talent zu sehen. Er hat immer Extraeinheiten geschoben und immer wieder den Ball ins Netz getreten, um an seiner Schusstechnik zu feilen. Das tut er noch heute. Ronaldo ist ein großer Spieler, dem leider oft zu wenig Respekt gezollt wird. Er ist ein Topfußballer, der unglaublich hart an sich arbeitet. Er und Griezmann werden die zentralen Figuren des Endspiels sein. Ich wünsche Ronaldo, dass er Portugal zum ersten Titel führt.

(RP)
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