Chancenverwertung als Problem "Feldhandball" ohne Tore bringt Löw ins Grübeln

Leipzig · Diagnose: nicht (mehr) titelreif. Nach der Qualifikation für die EURO 2016 wartet auf die deutschen Weltmeister sehr viel Arbeit.

Deutschland - Georgien: Einzelkritik zu Müller, Reus und Co.
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Deutschland - Georgien: Einzelkritik

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DFB-Präsident Wolfgang Niersbach übte ungewöhnlich deutliche Kritik, und Bundestrainer Joachim Löw stocherte peinlich berührt in seinem Espresso. Nach der mit Ach und Krach erfolgreichen EM-Qualifikation war den Verantwortlichen klar: In dieser Form wird das Unternehmen vierter EM-Titel für die deutschen Weltmeister in acht Monaten bei der Endrunde in Frankreich mit einem Fiasko enden.

"Das", sagte Löw über das extrem mühsame 2:1 (0:0) gegen Georgien in Leipzig zum Abschluss der Quali, "das ist nicht unser Anspruch. Wir wissen, dass wir noch einige Arbeit vor uns haben, um auf EM-Niveau zu kommen." Löws Frust über den abermaligen Chancenwucher seiner Mannschaft war so groß, dass er die Glückwünsche des Stadionsprechers zum EM-Ticket gar nicht mehr wahrnahm, weil er bereits in die Katakomben geflüchtet war. "Wir sind im Moment ein Boxer, der viele Treffer landet, aber nicht den K.o. schafft", schimpfte er später. Jerome Boateng ergänzte: "So brauchen wir gar nicht erst nach Frankreich zu fahren."

Joachim Löw: "Sturmproblem, Erleichterung und große Mängel" - Pressestimmen
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Deutschland - Georgien: Pressestimmen

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Niersbach ist geschafft

Präsident Niersbach hatte den ziellosen Zirkusfußball von Marco Reus und Co. auf der Tribüne der Red Bull-Arena trotz Eiseskälte mit Angstschweiß auf der Stirn verfolgt. "Ich bin auch geschafft, ich war nicht darauf eingestellt, dass wir so zittern müssen", sagte er, und bemängelte wie Löw die erneut fehlende Effizienz. "Wir haben wunderbare Fußballer, die streicheln, schieben, passen - nur der Ball muss dann irgendwann mal rein", sagte er bei RTL. Und: "Was nützt Ballfertigkeit, was nützt Ballbesitz, wenn das Entscheidende nicht passiert. Das ist das Manko."

Das muss sich schleunigst ändern, schließlich will der Weltmeister in Frankreich nicht in Schönheit sterben. "Wir müssen dahin kommen, dass wir diese absolute Geilheit, das Tor zu machen, wieder bekommen", mahnte Mittelfeldmann Toni Kroos. Allein Reus hatte nur in der ersten Halbzeit ein halbes Dutzend Gelegenheiten. Nach dem neunten Quali-Treffer von Toptorjäger Thomas Müller (50.) und dem zwischenzeitlichen Ausgleich durch Jaba Kankawa (53.) sicherte letztlich Joker Max Kruse (79.) den Gruppensieg vor Polen.

"Schwamm drüber, wir sind Tabellenerster", sagte Niersbach versöhnlich. So einfach wird es sich Löw nicht machen. Der "Feldhandball" (O-Ton Löw) ohne Tore hat ihn ins Grübeln gebracht. Zwar will er an seiner Grundidee festhalten, mit Kombinationen den Gegner müde zu spielen, um zum Knockout zu kommen. Lange Bälle verachtet er. Es soll niemand glauben, "dass wir wieder einen Horst Hrubesch benötigen", sagte Löw. Doch in Leipzig öffnete er erstmals wieder die Tür für eine echte Neun. "Wenn einer da ist, der die Form und das Selbstbewusstsein hat, bin ich um jeden Stürmer froh", sagte Löw.

EM-Kader 2016: Joachim Löw hat sich entschieden
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Joachim Löws EM-Kader

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Foto: dpa, woi lof

Doch das Problem ist tiefgründiger. Zu viel laufe durch die Mitte, monierte Löw. Ursache seien die defensiven Außen, die er noch immer nicht optimal besetzt wähnt. Die Gegner stehen zunehmend tief, da fehlt Löw ein "Eins-gegen-Eins-Spieler", der ein Bollwerk über den Flügel aufbrechen kann. Doch Löw hat keinen Arjen Robben oder Douglas Costa, wie er selbst in Leipzig beklagte - auch wenn das keine Außenverteidiger sind. Er hat Matthias Ginter. "Es kostet Kraft", sagte der, "wenn man immer wieder anrennt. Dann ist es schwierig, Balance zu halten."

Ersatzkapitän Manuel Neuer, der den Sieg mit zwei starken Paraden sicherte, setzt auf den EM-Effekt. In Frankreich "werden die Gegner mitspielen", ist sich der Torhüter sicher, "da bekommen wir auch mal Räume und werden hoffentlich wieder so spielen, wie man die deutsche Nationalmannschaft kennt."

Zunächst stehen zwei Testspiele im November gegen Frankreich und voraussichtlich die Niederlande an, in denen Löw experimentieren will - taktisch wie personell. Müller meinte, die Weltmeister könnten dann "an unserem Image arbeiten". Das hat in der schwächsten Quali seit jener für die EM 1984 mit wie damals zwei Pleiten gelitten.

Bis zur EURO (10. Juni bis 10. Juli) sei ja noch Zeit, beruhigte Löw die größten Zweifler. Und Kroos meinte gar: "Ich kann versprechen, dass Deutschland bei der EM wieder eine sehr, sehr gute Mannschaft stellen wird - mit sehr guten Chancen." Titelchancen, meinte er.

EM-Trainingslager im Tessin

Auf dem Weg zum möglichen Titelgewinn bezieht das DFB-Team im kommenden Jahr sein EM-Trainingslager in Ascona am Lago Maggiore, wo die DFB-Auswahl auch 2008 während der EM in Österreich und der Schweiz residiert hatte.

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"Das Tessin bietet die besten Voraussetzungen", hatte Bierhoff bereits im Vorfeld gesagt. Löw wird voraussichtlich wenige Tage nach dem Ende der Bundesliga-Saison am 14. Mai mit dem Gros seiner EM-Kandidaten in der Schweiz die Vorbereitung auf die Endrunde beginnen, die nach Angaben von Bierhoff zehn bis zwölf Tage dauern wird.

Bereits während der EM 2008 hatte Löw während des Turniers mit seiner Mannschaft im Luxushotel Giardino gewohnt, wo der DFB-Tross wohl auch im kommenden Jahr für die Vorbereitungszeit Quartier bezieht. 2008 war Deutschland bis ins EM-Finale gekommen, wo es Spanien unterlag (0:1).

(dpa)
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