EM-Tagebuch Als mich Ernst Huberty geweckt hat

Fußballfreie Tage sind eine Qual für unseren Autor. Er fühlt sich wie auf Entzug, imitiert Pep Guardiola, erinnert sich an nordkoreanische Aufstellungen des vorigen Jahrhunderts und findet plötzlich einen Holländer gut.

 RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

Foto: Phil Ninh

Zu Hause wäre das so: Irritiert schaue ich mich im Wohnzimmer um, sehe mit Erstaunen die beste Ehefrau von allen ganz in der Nähe auf der Couch sitzen, erkenne Einrichtungsgegenstände wieder, die ich längst vergessen hatte und entdecke neben Tippzetteln, unbedingt notwendigen Fußball-Fachorganen, hingekritzelten Formberichten von Portugal bis Island und dem DIN-A-2-Spielplan - Leere, absolute Leere. Denn das Turnier macht Pause.

Hier ist das beinahe so unerträglich wie daheim. Wieder kann ich mit dem großen Loriot sagen: Ein Leben ohne Fußball ist möglich, aber sinnlos. Vor allem der Abend ist völlig ohne Zweck. Ich geistere mit weglos-abwesendem Blick von meinem Berg ins Tal, schlurfe durch die Fußgängerzone von Evian, versuche mich auf einer Bank am See mit dem trostlosen Schicksal zu versöhnen, schau zu den Bergen hinauf, die auch keinen Rat wissen und würde einiges darum geben, wenn wenigstens mein alter Feind, der Regengott vom Lac Leman, mich ordentlich begießen würde. Dann könnte ich mich so richtig in meinem Leid suhlen. Einen Abend ohne Fußball kann ich schon nicht aushalten, aber zwei? Das kommt der Folter ziemlich nah.

Ich ertappe mich, wie ich minutenlang mit einem leise aufwallenden Glücksgefühl durch das Fenster einer Kneipe auf das flackernde Fernsehbild schaue. Fußball! Deutschland! Müller! Özil! Doch vor dem fünften Ausrufezeichen und Herzhüpfer die schreckliche Erkenntnis: Das ist eine Konserve, der Gegner heißt Nordirland. Eine kalte Faust wohnt in meinem Magen.

Ich versuche mich an Abende zu erinnern, die ebenfalls ohne Fußball waren - damals, früher, so weit weg. Ich denke das Wort "Sommerpause" und bekomme sofort Gänsehaut. Bei der Vorstellung, dass das nun weitere 24 Stunden so gehen wird, zittern die Hände, kalter Schweiß tritt mir auf die Stirn, ich bin ganz schwer auf Entzug.

Vielen Kollegen geht es genauso. Man erkennt sie am schlurfenden Gang und der grauen Gesichtsfarbe. In der Not halten wir tapfer zusammen, bilden in Cafés kleine Selbsthilfegruppen, erzählen uns die schönsten Doppelpassgeschichten seit 1954 und wiederholen die Aufstellung der nordkoreanischen Nationalmannschaft, die 1966 bei der Weltmeisterschaft in England die Italiener aus dem Turnier befördert hat - mit dem unvergessenen Torschützen Pak Doo-Ik. Mit fiebrigen Augen erinnern wir uns an das 3:1 von Wembley 1972, an Ramba-Zamba, Franz Beckenbauer und Günter Netzer.

Auf Servietten malen wir Marco van Bastens Münchner Finaltor von 1988 auf. Es macht uns nichts, dass er Holländer ist. Wir springen auf, wenn wir Oliver Bierhoffs goldenes Tor von 1996 nachspielen. Wir machen Tiki-Taka mit den Kaffeetassen, bis der Wirt böse guckt. Wir klopfen uns auf die Schenkel, wenn einer vor der Tür Fallrückzieher übt wie Ibrahimovic. Die ersten Einwohner von Evian fliehen.

Wir bauen unterdessen Dreier-, Vierer- und Fünferketten mit Gläsern, Salz- und Pfefferstreuern. Ich sage: "Das ist wie bei Guardiola und dem dünnen Dortmunder Mann. Die haben das beim Schumanns in München auch gemacht." Das finden alle toll, und das Zittern der Hände lässt spürbar nach.

Wir postieren einen Kollegen an der Tür, einen anderen am Tresen, den Zapfhahn erklären wir zum Ball, und vier Mann tanzen ein wildes Ballett, das sie ballorientiertes Verschieben nennen. Auf dem Höhepunkt des Abends schlägt einer mit einem gekochten Ei einen Diagonalpass durchs gesamte Café. Daraufhin werden wir vor die Tür gesetzt.

Aber es war dann doch ganz schön. Und wir loben uns gegenseitig, wie locker man doch einen Abend so völlig ohne Fußball aushalten kann. Den Weg den Berg hinauf begreife ich als unbedingt nötige Trainingseinheit, ich fühle mich schon viel besser.

Mitten in der Nacht schieße ich schweißgebadet aus dem Schlaf. Im Traum hat jemand gesagt: "Am 10. Juli ist Finale, und die Bundesliga beginnt erst am 26. August." Ich glaube, es war Ernst Huberty. Danach hat er ziemlich fies gelacht. Ich bin fix und fertig. Gott sei Dank ist heute Viertelfinale.

(RP)
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