EM-Tagebuch Der König der Welt auf Bootstour

Unser Autor schippert auf einem kleinen Fährboot auf dem Kanal Saint-Denis und ist stark begeistert von dem Angebot. Total überfordert ist er dagegen vom Angebot eines auf der anderen Flussseite befindlichen Einkaufszentrums. Dann doch lieber wieder zurück auf den Kahn.

 RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

Foto: Phil Ninh

Jetzt aber Paris. Eine Stadt mit so vielen Ausrufezeichen, dass ich mit dem Zählen gar nicht nachkomme. Eiffel-Turm! Bastille! Montmartre! Seine! Notre Dame! Triumphbogen! Champs Elysées! Es ist gar nicht auszuhalten.

Zum Glück bin ich wegen des Fußballs hier und beschränke touristische Unternehmungen im weitesten Sinn auf ein vernünftiges Mindestmaß. Mein persönliches Ausrufezeichen im 19. Stadtbezirk, den ich zusammen mit einer stattlichen Horde deutscher Journalisten gerade bevölkere, ist ein kleines Fährboot. Es verkehrt auf dem Kanal Saint-Denis, und es bringt einen mitten in ein mehr als nur stattliches Einkaufszentrum. Völlig gebührenfrei. Die Kosten übernimmt in all seiner Güte der Betreiber der Ladenkette. Davon bin ich zunächst mal ziemlich begeistert.

Zum einen, weil ich im nicht einmal tiefsten Inneren ein ausgewiesen kritikloses, meinungsfreies Opfer des andernorts heftig attackierten Konsumterrors bin - dazu in einschlägigen Foren sicher mehr. Zum anderen, weil mich die Fähre und das sechsminütige Herumschippern auf dem Kanal an entspannende Touren auf dem Rio Joao de Tiba ins gelobte Jogiland vor zwei Jahren erinnert. Damals ließen wir uns durch die brasilianische Wildnis ins Campo Bahia übersetzen. Heute ist das ein bisschen weniger wild, aber es ist Wasser unter dem Boden.

Wir gleiten auch nicht an trockengefallenen Fischerbooten vorbei, sondern nur an mit ordentlich Graffiti überzogenen Brücken und Uferbefestigungen, doch das hat auch was. Und geangelt wird am Ufer trotzdem. Die Erfolgsaussichten kann ich nicht beurteilen. Immerhin ist das Wasser des Kanals Saint-Denis ähnlich undurchsichtig wie das des Rio Joao de Tiba im fernen Südamerika.

Damals, vor zwei Jahren, war La Mannschaft noch nicht la Mannschaft, sondern lediglich die deutsche Nationalmannschaft. Ihre Werbetruppe war einfach nicht so weit, bis nach Frankreich zu schauen. Und die Mannschaft war auch noch nicht Weltmeister. Auf La Weltmeister verzichteten die Sprachathleten im Verband weniger aus geschmacklichen als aus grammatischen Gründen. Schließlich heißt es ja le (der) Champion.

Als die spätere La Mannschaft das letzte Mal aus ihrer Hippie-Wohngemeinschaft am Meer über den Fluss gebracht wurde, war sie lediglich mal wieder Finalteilnehmer. Alles war eine Ecke unschuldiger und weniger wortgewaltig.

Dafür gab es auf dem rostigen Kahn jene schon sprichwörtlichen Begegnungen mit "Menschen, Frauen und Kindern", die der damalige DFB-Generalsekretär Helmut Sandrock mit großem Weitblick versprochen hatte. Der Kahn auf dem Kanal Saint-Denis ist entschieden weniger rostig, aber auch hier gibt es Begegnungen mit Menschen, die sich in das Studium ihrer Smartphones vertiefen, Frauen, die den Einkaufszettel auswendig lernen, und einem Kind, das mich offenbar ausnehmend nett findet. Es lächelt sehr, und wenn ich zurücklächle, dann lacht es sogar. Ich fühle mich sofort zu Hause und bin bereit, als Fördermitglied in den Stadtteilverein der freiwilligen Feuerwehr einzutreten.

Fürs Erste genügt es wahrscheinlich, auf dem Boot ziemlich einheimisch zu tun und am Ende der feinen Tour lässig ins Einkaufszentrum zu schlendern. Belohnt wird dieser Ausflug mit dem Warenangebot einer mittleren Kleinstadt, leider auch mit der international offenbar üblichen Vielfalt. Von "H und M" bis "C und A", vom Telefonladen bis zur Drogeriekette, von der Bäckerei-Filiale bis zur amerikanischen Frikadellen-Braterei - alles so geordnet wie daheim. Heimatliche Gefühle kommen dennoch nicht auf. Vielleicht liegt es am Gedudel, für das bestimmt eine international tätige Mafia unter dem Vorsitz von Frank Farian verantwortlich ist.

Ich fliehe zurück auf die Fähre, wo sich der Pulsschlag unmittelbar beruhigt. Als das Boot lostuckert, bricht die Sonne durch die Wolken, und der Co-Pilot des Kapitäns (keine Ahnung, wie man den richtig nennt), geht raus und setzt sich an den Bug. Zum Glück darf ich da aber nicht hin. Ich würde sonst bestimmt ganz viel dummes Zeug machen wie Leonardo DiCaprio im "Titanic"-Film und sehr, sehr laut brüllen: "Ich bin der König der Welt!" Man weiß ja, wozu das geführt hat. Also genieße ich lieber weiter Begegnungen mit Menschen, Frauen und Kindern.

Und es regnet bestimmt auch bald wieder.

(RP)
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