EM-Tagebuch Keine Augen für Marseille

Die Metropole in Südfrankreich ist bildschön: Berge, Kirchen, der Hafen, das Meer. Doch dieser Tage hat der Tourist dafür keine Augen. Die Sonne brennt vom Himmel, so dass jeder Spaziergang zur Qual wird. Und dann sind da auch noch diese Zigtausenden Fußballfans, die ihre Lieder schmettern.

 RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

Foto: Phil Ninh

Marseille ist heiß, richtig heiß. Und braun, rotbraun. Das ist das erste, was mir auffällt, als ich vom Platz vor dem Bahnhof St. Charles die Straße runterschaue. Die Provence hat ihre Farben auf die Dächer der Stadt gemalt, und am Abend, wenn die untergehende Sonne das Licht ein bisschen golden macht, sieht es echt romantisch aus. Vor allem, wenn man, wie ich, die Kirche Notre Dame de la Garde ohne Mühe aus dem Hotelfenster hoch auf dem Berg über der Stadt schweben sehen kann.

Es ist entschieden mühevoller, den Felsen hinaufzukraxeln, auf dem die Kirche steht. Meinem kleinen Wundertelefon entnehme ich, dass die Bevölkerung das Gotteshaus "La Bon Mère" (die gute Mutter) nennt und dass der Felsen, auf dem es erbaut wurde, 147 Meter hoch ist. Trotz alpiner Vorbildung in vier Wochen Evian erspare ich mir den Aufstieg bei 33 Grad im Schatten - von dem es da oben wenig gibt.

Ich widme mich anderen Sehenswürdigkeiten. Der Treppe vor besagtem Bahnhof zum Beispiel. Sie hat etwas von der Spanischen Treppe in Rom, ist sehr ausladend und hat viele Stufen. Es sitzen allerdings nicht so viele Menschen darauf wie auf dem Modell in Rom. Und als ich mich kurz niederlasse, erfahre ich auch, warum. Ein Mensch, der ein bisschen abgerissen aussieht, fragt, ob ich ihm etwas abkaufen will. Was das wohl sein mag, verstehe ich lieber nicht und mache mich eilig davon. Die Polizisten am Bahnhof scheinen wichtigere Dinge zu tun zu haben.

Ich gehe die Straße hinunter, weil man mir gesagt hat, dass der alte Hafen nicht weit ist. Gut, dass ich mir kein Auto geliehen habe, denke ich unterwegs, denn die sind hier entschieden langsamer als Fußgänger. Langsamer selbst als Fußgänger, die sich dem mediterranen Rhythmus anpassen und in der Hitze eher vorsichtig die Füße voreinander setzen. Hoffentlich wird das La Mannschaft am Abend auch beherzigen. Ich stehe jedenfalls nach 500 Metern in Schweiß und wechsle auf die Schattenseite der Straße. Eine jugendliche Gruppe fliegt vorbei, alle sehen aus wie Kingsley Coman von Bayern München, einer hat sogar so ein Zöpfchen im Nacken.

Ich biege ab auf die "Canebière", eine "ehemalige Prachtstraße", wie mein Wundertelefon verrät. Der Name hat etwas mit dem Haschischhandel früherer Jahre zu tun. Jetzt fällt mir ein, was der Mensch auf der Treppe wohl verkaufen wollte.

In der Umgebung des Hafens liegt der älteste Teil von Marseille, und er ist schon am Morgen ordentlich von (Fußball-)Touristen bevölkert. Sie sitzen am Wasser, schieben sich durch die Gassen und bestaunen die vielen Treppen, die nach oben in die Stadt führen. Es sieht aus wie eine Filmkulisse, und das war die Stadt ja auch schon. "Borsalino" hat hier gespielt, und ich stelle mir vor, wie Alain Delon und Jean-Paul Belmondo aus den Kulissen treten - Zigaretten rauchend natürlich. Stattdessen biegen zweimal Müller, einmal Kroos, zweimal Hummels und einmal "Oppa" in den weißen Trikots von La Mannschaft mit den Rückennummern 13, 18, 5 und 60 um die Ecke. "Oppa" finde ich in meinem Aufgebot nicht, er ist wohl nachnominiert. Alle haben zum Frühstück offensichtlich schon mehr als nur Kaffee getrunken, und sie singen nicht ganz notensicher: "Die Nummer eins der Welt sind wir." Ich finde das immer ein bisschen peinlich und verdrücke mich in die nächste Gasse.

Hier sieht's auch aus wie im Film, aus den Fenstern hängt Wäsche, und es ist bestimmt ganz leicht, den Nachbarn von gegenüber in den Kochtopf zu gucken. Irgendwo dudelt ein Radio. In einer Bäckerei stehen zwei Verkäufer mit Irokesenpe-rücken in den französischen Nationalfarben. Sie singen nicht. Sie haben sicher auch noch nicht mehr als Kaffee zum Frühstück getrunken.

Am Bahnhof bietet mir ein Verkäufer die Sportzeitung "L'Équipe" an. Auf dem Titel steht "Le Jour de Gloire" (der Tag des Ruhms). Das spielt auf die Nationalhymne an, das berühmte Kampflied der 500 Freiwilligen aus Marseille, die in Paris die Revolution unterstützten, die Marseillaise. "Der Tag des Ruhms ist gekommen", heißt es da. Der Rest ist ziemlich blutrünstig und eigentlich nicht jugendfrei. Am Abend im Stadion wird das Lied dennoch voller Inbrunst geschmettert. Es ist immer noch heiß, die Dächer werden rot-braun-golden, aber ich habe dafür keine Augen. Ich bin einer von 67.000 im Stadion.

(RP)
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