EM-Kolumne Kritik an Löws Taktik ist seltsam

Düsseldorf · Deutschland ist im Halbfinale gegen Frankreich im Vorteil. Denn zum ersten Mal bei diesem Turnier ist unsere Mannschaft nicht in der eindeutigen Favoritenrolle. Frankreich spielt im eigenen Land, Frankreich ist zu Hause eine Macht. Wir haben 2014 bei der WM in Brasilien jedoch auf beeindruckende Weise gezeigt, wie man ein Spiel gegen den Gastgeber in einem Halbfinale angeht.

 RP-Kolumnist Berti Vogts.

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Dieses Spiel gegen Brasilien ist die perfekte Vorlage für das heutige Duell mit Frankreich. Joachim Löw wusste genau, wo die Schwachstellen der "Selecao" waren - und er weiß auch, wo die Franzosen verwundbar sind.

 RP-Kolumnist Berti Vogts.

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Natürlich haben wir jetzt einige Verletzte. Wie 1996. Aber die Turniere kann man nicht miteinander vergleichen. Damals sind schon in der Vorrunde vier bis fünf wichtige Spieler ausgefallen - das war eine andere Dimension als heute. Und: 1996 war eine andere Zeit. Wir spielen einen Fußball mit ganz anderer Qualität und Kreativität. Und wir haben einen Kader mit einer ganz anderen Tiefe. Es ist ärgerlich, dass Mario Gomez ausfällt. Aber bitte: Wir haben Mario Götze, der im WM-Finale das Siegtor geschossen hat. Auch mit einer falschen Neun können wir gegen Frankreich Chancen herausspielen: Götze kann den Ball halten und mit seiner Beweglichkeit Löcher in die Defensive reißen — gegen eine französische Abwehr, die keineswegs sattelfest ist. Neben Götze haben wir weitere starke Spieler, die ein solches Spiel entscheiden können. Leroy Sane kann auch so einer sein — aber aus der Hinterhand, für die Startelf wäre es zu früh, zumal in so einem Spiel.

Was unser Team in der Lage ist zu spielen, haben wir gegen Italien gesehen. Phasenweise war es absolute Weltklasse, was da gezeigt wurde. Wir haben die Italiener tief in deren Hälfte festgenagelt und hatten die Chance, nach dem 1:0 die Partie vorzeitig zu entscheiden. Aber Siege im Elfmeterschießen schweißen ein Team nochmal ganz anders zusammen. Wer weiß, wozu das gut ist. Dass es am Rande des Spiels Kritik gab an Joachim Löws taktischer Variante, ist schon sehr seltsam. Der Bundestrainer ist ein herausragender Taktiker, und er kennt das Team in allen Nuancen am besten. Er hat einen Kader, der viele Optionen bietet - warum soll er sie nicht nutzen. Ich weiß nicht, warum in unserem Land immer gemäkelt werden muss. Seit 2004 ist sehr viel Gutes passiert im deutschen Fußball - und somit wurden natürlich auch viele gute und richtige Entscheidungen getroffen.

Jürgen Klinsmann hat den DFB trotz extremer Grabenkämpfe, von denen er sich zum Glück nicht hat beeinflussen lassen, neu aufgestellt. Entscheidend war immer: Jürgen hat ohne Wenn und Aber sein Konzept durchgebracht. Auch die Idee, Joachim Löw zum Co-Trainer zu machen. Er fragt mich, ob das gut sei, ich sagte: Das ist Deine Entscheidung, du hast deinen Plan dahinter. Es war die richtige Entscheidung. Löw hat den Weg ab 2006 konsequent fortgesetzt. Dazu gehörte auch, den Teammanager Oliver Bierhoff einzustellen. So kann sich der Trainer auf den Fußball konzentrieren - mit seinem Expertenteam. Und ich kann jedem Kritiker versichern: Joachim Löw berät sich intensiv mit seinem Stab, dann trifft er seine Entscheidungen. Punkt.

Wohin die Entwicklung unseres Fußballs geführt hat, ist offenbar: Deutschland ist DAS Fußball-Land, es ist führend unter all den großen Fußballnationen. Alle schauen mit großem Respekt auf uns - nur bei uns selbst gibt es Experten, die immer wieder das Haar in der Suppe suchen. Wir sollten Löw, der uns, ich erinnere daran, zum Weltmeister gemacht hat, und seinem Team vertrauen. Es wird schwer gegen die Franzosen, aber wir können es schaffen. Ob im 4-4-2 oder mit einer Dreierkette - beides ist denkbar - spielt keine Rolle. Es geht um das Finale. Und da gehört das deutsche Team hin. Keine andere Mannschaft hat mehr überzeugt in Frankreich.

Unser Autor führte die deutsche Nationalmannschaft 1996 als Bundestrainer zum EM-Titel. Er absolvierte als aktiver Spieler 96 A-Länderspiele.

(RP)
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